London. Die Corona-Zahlen in Großbritannien bleiben hoch. Die Regierung setzt auf das Impfprogramm – aber das ist offensichtlich nicht genug.

In den vergangenen Wochen waren die Schlagzeilen in Großbritannien voll von Berichten über mangelndes Benzin, fehlende LkW-Fahrer und leere Supermarktregale. Von der Pandemie hat man hingegen kaum etwas gehört – dabei ist auch diese Krise alles andere als abgeflaut.

Seit dem Sommer verzeichnet Großbritannien konstant hohe Fallzahlen: Mit einer Sieben-Tage-Inzidenz von über 380 Fällen pro 100.000 Einwohnern zählt das Land derzeit zu den am stärksten getroffenen in Europa. Zum Vergleich: In Luxemburg liegt die Inzidenz bei 110 Fällen, in Deutschland bei 66. Seit Monaten werden in Großbritannien zwischen 30.000 und 40.000 täglichen Neuinfektionen gemeldet. Lesen Sie auch:Impfdruchbrüche: Warum landen mehr Geimpfte in Kliniken?

Fast jede fünfte Covid-19-Patientin eine ungeimpfte Schwangere

Die britischen Krankenhäuser sind noch nicht überlastet, aber weiterhin werden täglich mehrere Hundert Covid-Patienten eingeliefert. Insbesondere trifft es derzeit schwangere Frauen, die noch nicht geimpft sind: Laut der Gesundheitsbehörde NHS waren zwischen Anfang Juli und Ende September 17 Prozent der Patientinnen und Patienten, die an Beatmungsgeräte angeschlossen werden mussten, ungeimpfte schwangere Frauen.

„Es ist sehr traurig, dass fast jede fünfte Covid-19-Patientin, die am schwersten erkrankt ist, eine Schwangere ist, die nicht geimpft wurde“, sagte der britische Minister für Gesundheit und Soziales, Sajid Javid. „Dies zeigt, wie wichtig es ist, dass sich werdende Mütter impfen lassen, um sich und ihre Babys zu schützen.“ Mehr als 81.000 Schwangere haben inzwischen eine erste Impfdosis erhalten, rund 65.000 sind schon vollständig immunisiert.

Zwar stimmt es, dass die befürchtete Monsterwelle im Spätsommer ausgeblieben ist. Im Juli, als die britische Regierung – die in Gesundheitsfragen nur für England zuständig ist – alle Covid-Einschränkungen über Bord warf und das Land weitgehend zum Normalbetrieb überging, sahen viele Experten ein drohendes Desaster. Auch Gesundheitsminister Sajid Javid sagte damals, dass man bald „bis zu 100.000 Neuinfektionen pro Tag“ sehen würde.

Dieses Szenario ist nicht eingetreten – aber ebensowenig ist die Corona-Pandemie signifikant zurückgegangen, sie hält sich auf einem konstant hohen Niveau, während sie in anderen vergleichbaren Ländern stark eingedämmt worden ist. Weshalb ist das so?

Britische Regierung verlässt sich allein auf Impfprogramm

Der wichtigste Grund besteht darin, dass sich die englischen Behörden voll und ganz auf das Impfprogramm verlassen (Schottland, Wales und Nordirland haben teilweise striktere Regeln). An seiner Rede auf dem Tory-Parteitag vergangene Woche schwärmte Boris Johnson, dass Großbritannien dank „des magischen Tranks, der in der Universität Oxford erfunden wurde“, die Covid-Beschränkungen abbauen konnte.

Tatsächlich legte der Gesundheitsdienst in den ersten Monaten des Jahres eine beachtliche logistische Leistung vor: Er impfte im Rekordtempo, die gefährdeten Gruppen wurden im Nu immunisiert. Auch interessant: Drosten ärgert sich über Diskussion um Impfquote: „Klamauk“

Aber seit dem Sommer hat sich das Impftempo verlangsamt, Großbritannien ist von anderen europäischen Ländern überholt worden. Bislang sind 67.4 Prozent der Bevölkerung zwei Mal geimpft worden – weniger als in Irland, Dänemark oder Spanien. Das liegt auch daran, dass das britische Impfprogramm erst Ende September auf Kinder und Jugendliche ausgeweitet wurden, während andere europäische Länder schon viel früher damit begonnen haben.

Wegfall der Schutzmaßnahmen sorgt für hohe Infektionszahlen

Dennoch vertraut die britische Regierung so sehr in die Wirkung der Vakzine, dass sie von allen anderen Maßnahmen abgesehen hat. In Innenräumen wird keine Maskenpflicht und kein Mindestabstand vorgeschrieben, und es gibt lediglich Empfehlungen an Schulen, dass Schülerinnen und Schüler sowie das Lehrpersonal vor Covid zu schützen sind.

Viele Transportbehörden in Großstädten haben zwar das Tragen von Masken auf eigene Faust obligatorisch gemacht, aber viele Leute halten sich nicht daran – schließlich ist es nicht gesetzlich vorgeschrieben. Auf der Londoner U-Bahn beispielsweise sieht man zuweilen Waggons, in denen nur die Hälfte der Leute Gesichtsschutz tragen. Lesen Sie auch: Biontech: So drastisch senkt der Booster das Corona-Risiko

Die Gesundheitsexperten Christina Pagel vom University College London und Martin McKee von der London School of Hygiene and Tropical Medicine schreiben, dass die Abwesenheit jeglicher Eindämmungsmaßnahmen für die hohen Fallzahlen in England verantwortlich ist: „[Unsere europäischen Nachbarn] zeigen, dass es einen Weg gibt, offen zu sein und gleichzeitig die Fälle tief zu halten.“

Wissenschaftler: Maßnahmen wie Homeoffice und Maskenpflicht wären ausreichend

Das sieht man auch in Schottland, wo weiterhin die Maskenpflicht in Innenräumen und im öffentlichen Verkehr gilt: Nach einem scharfen Anstieg im Sommer, der auf den Abbau der meisten Restriktionen folgte, sind die Fallzahlen im Lauf des Septembers stark zurückgegangen – ein scharfer Kontrast zu England.

Nicola Sturgeon, die Erste Ministerin Schottlands, bekräftigte vergangene Woche, dass sie denn auch an der Maskenpflicht festhalten wolle: „Wir finden es vernünftig, dass wir jetzt, wo wir auf den Winter zugehen, die verbleibenden Einschränkungen beibehalten, etwa Gesichtsmasken.“ Laut Studien reduzieren Masken das Infektionsrisiko um rund 80 Prozent.

Bereits vor über einem Monat empfahl der wissenschaftliche Beraterstab der Regierung, dass „angesichts der hohen Fallzahlen“ einige „relativ leichte Maßnahmen“ ausreichen würden, um eine rapide Ausbreitung der Pandemie zu verhindern – etwa die Anordnung, dass alle, die es können, von zu Hause arbeiten, oder dass Masken häufiger getragen werden.

Boris Johnson hat sich jedoch bislang gegen diese Empfehlungen entschieden. Erst wenn der Gesundheitsdienst mit einem „untragbaren Druck“ ausgesetzt ist, soll „Plan B“ in Kraft treten und gewisse Beschränkungen wiedereingeführt werden. Unterdessen geht das Impfprogramm in die dritte Runde: Bereits 2 Millionen Britinnen und Briten, die zur gefährdetsten Gruppe gehören, haben die dritte Dosis erhalten.