Berlin. Der Inzidenzwert gilt als wichtigster Indikator in der Corona-Pandemie. Nun plant das RKI einem Medienbericht zufolge eine Änderung.

Die Inzidenz, die Kennziffer für die Neuansteckungen mit Sars-CoV-2, verliert für Gesundheitsminister Jens Spahn (CDU) „zunehmend an Aussagekraft“. Auf welchen Indikator es im kommenden Herbst und Winter mehr denn je ankommen wird, verrät eine vom Robert-Koch-Institut (RKI) angekündigte Studie. Als „zusätzlichen Leitindikator“ schlagen die Experten laut „Bild“ die „Hospitalisierung“ vor: den Anteil der Corona-Infizierten, die im Krankenhaus behandelt werden müssen. Das wäre die politische Kurskorrektur, die seit Monaten angemahnt wird, zuletzt am Sonnabend vom saarländischen Ministerpräsidenten Tobias Hans (CDU) im Gespräch mit unserer Redaktion.

Wenn es so kommt, dann ist es nicht mehr entscheidend, wie viele Menschen sich infizieren – und wie viele der Infizierten tatsächlich erkranken. Wichtig bei der Bewertung der Pandemie wird dann, wie viele Menschen schwer erkranken. Dass die „Bild“ die RKI-Pläne („Geheimpapier“) bereits lüftet, dürfte deren offizielle Veröffentlichung beschleunigen, womöglich schon am heutigen Dienstag, wenn Kanzlerin Angela Merkel (CDU) das Institut besucht.

Ein Überblick über alte und neue Zahlen, auf die es künftig bei der Bewertung der Pandemie ankommt.

Corona: Welche Rolle spielt der R-Wert noch?

Zu Beginn des Ausbruchs der Pandemie stand der R-Wert im Fokus. Die Zahl gibt an, wie viele andere Menschen eine mit dem Coronavirus infizierte Person durchschnittlich ansteckt. Liegt R bei eins, wird von einem Infizierten eine weitere Person infiziert. Schon bald gerieten allerdings andere Kriterien in den Vordergrund.

Die Inzidenz - Orientierungsgröße schlechthin?

Sämtliche „Lockdowns“, aber auch das zeitweilige „Notbremsen“-Gesetz sowie die „Quarantänepflicht“ für Reisende wurden bislang sehr stark nach der Inzidenz reguliert beziehungsweise mit ihr begründet. Sie war die Orientierungsgröße schlechthin, das „Maß aller Dinge“, wie sich Kritiker ärgerten.

Für Risikogebiete etwa liegt der Richtwert bei 50 Fällen auf 100.000 innerhalb von sieben Tagen, für Hochinzidenzgebiete bei mehr als 200 Fällen. Die Inzidenzmessung war das gesellschaftlich eingängige Fieberthermometer in der Pandemie. Hohe Inzidenzen führten in der Vergangenheit zu Einschränkungen, niedrige Zahlen zu Lockerungen.

Für einen Arzt wie Peter Liese ist es klar, dass die Inzidenz „natürlich in einem anderen Licht erscheint“, je mehr Leute geimpft sind. Weil die Erkrankungen dann glimpflicher verlaufen. „Eine Inzidenz von 50 im Herbst würde nicht die gleichen Einschränkungen rechtfertigen wie im letzten Jahr“, erläuterte der CDU-Europaabgeordnete im Gespräch mit unserer Redaktion. Das machten uns gerade die Briten mit der weitgehenden Öffnung und dem Wegfall vieler Corona-Auflagen vor. „Wenn das da gut geht – was ich nicht so richtig glaube –, dann können wir alles lockern.“

Wird die Hospitalisierung zum wichtigsten Wert?

Bei der Einordnung der Pandemie kommt es zunehmend darauf an, wie viele Menschen so schwer erkranken, dass sie im Krankenhaus behandelt werden müssen. Bisher lautete die Erfahrung: Steigt die Zahl der Infizierungen, landen mit einem gewissen zeitlichen Abstand auch mehr Menschen im Krankenhaus. Das ist aber nicht zwingend, weil immer mehr Menschen immun sind. Entweder sind sie genesen oder geimpft. In Großbritannien steigen die Infektionszahlen drastisch an, die Hospitalisierungszahlen ziehen aber nicht nach.

Die Intensivbettenbelegung

Womöglich ist bei der Beurteilung der Belastung des Gesundheitssystems die Zahl der Patienten in den Intensivstationen aussagekräftiger als die reine Hospitalisierungsrate. Die Zahl der Betten ist begrenzt und die Behandlung personalintensiv. An ihrer Belegung ändert sich wenig. Die Gesamtzahl schwankt im Laufe des Jahres zwischen 19.000 und 21.000. Noch relevanter ist der Anteil der Covid-Patienten. In einer Stadt wie Berlin liegt er derzeit bei 3,6 Prozent, im Winter und Frühjahr waren es schon mal zwischen 20 und 30 Prozent. Auch interessant: Corona: Alpha, Beta, Delta, Lambda – Das sind die Mutationen

Gesundheitsminister Jens Spahn verpflichtete die Krankenhäuser, mehr Details zu Covid-19-Fällen zu melden, etwa Alter, Art der Behandlung, Impfstatus. „So können wir zeitnah abschätzen, wie hoch die Belastung für das Gesundheitssystem wird und wie gut die Impfungen wirken“, twitterte er. Offenbar rechnet das RKI mit einer „Abnahme des Anteils schwerer Fälle“, zumal die Risikogruppen (ältere Menschen und solche mit Vorerkrankungen) fast vollständig durchgeimpft sind.

Die Todesfälle

Ein umstrittenes Kriterium ist die Zahl der Todesopfer, für das Leibniz-Institut für Wirtschaftsforschung, besser bekannt als Rheinisch-Westfälisches Institut für Wirtschaftsforschung (RWI), war sie im Februar die „Unstatistik“ des Monats. Seit Ausbruch der Krise registrierte das RKI 91.233 Todesfälle. Aber schon an der Frage, ob die Menschen an oder mit Corona gestorben sind, scheiden sich die Geister, zumal infizierte Altbetagte vielleicht doch an anderen Ursachen verstorben sind.

Das Internetportal Statista verzeichnet für Deutschland eine sogenannte Letalitätsrate von 2,46. Weltweit läge der Schnitt bei 2,31. Sie errechnet sich aus dem Verhältnis der Todesfälle in Zusammenhang mit dem Virus zur Zahl der Infektionen. Aber man kann sie nicht sauber interpretieren, ohne die Altersstruktur eines Landes zu berücksichtigen. Die Hälfte der deutschen Bevölkerung ist über 45 Jahre alt – und damit „Risikogruppe“. Deutschland ist das „älteste“ EU- Land.

Die Impfquote

Ein Schlüsselkriterium wird künftig die die Impfquote. 58,5 Prozent der Bürger haben die erste Dosis bekommen, 42,6 Prozent sind vollständig geimpft (Stand 12.07.2021) und gelten als immun. Das bedeutet nicht, dass sie das Virus nicht weitergeben können. Ebenso wenig bietet es eine Gewähr, dass sie nicht erkranken. Wohl geht man davon aus, dass die große Mehrheit der Infizierten nicht mehr schwer erkranken wird. Lesen Sie auch: Bund: Dritte Corona-Impfung im Herbst für alle möglich

Wenn die Inzidenzen steigen, die Zahl der hospitalisierten Erkrankten aber nicht – oder nicht im gleichen Tempo und Maße –, dann sieht der Chef der Kassenärztlichen Bundesvereinigung, Andreas Gassen, einer vierten Corona-Welle „sehr gelassen“ entgegen. Er meint, Deutschland müsse sich „mit höheren Infektionszahlen arrangieren“. Und genau dafür liefert das RKI eine Blaupause.