Berlin. Italien trauert um eine Zehnjährige. Sie starb nach einer Tiktok-Mutprobe. Experten warnen – und nehmen Eltern in die Pflicht.

  • Italien trauert um ein zehn Jahre altes Mädchen. Antonella nahm an einer Tiktok-Challenge teil. Sie starb, nach dem sie sich selbst die Luft abgeschnitten hatte
  • Gesehen hatte das Mädchen die Challenge wohl bei einer italienischen Influencerin in dem sozialen Netzwerk. Die Polizei ermittelt wegen Anstiftung zum Suizid
  • Die Challenges sind vergleichbar mit den Mutproben vergangener Tage. Die Teilnehmenden erhoffen sich Internet-Ruhm und übersehen dabei mitunter tödliche Gefahren
  • Experten warnen davor, Kinder im 21. Jahrhundert unbeaufsichtigt im Internet zu lassen

Die Frau umwickelt ihr Gesicht mit transparentem Klebeband und lässt sich dabei filmen. Auch den Mund, auch die Nase, bis sie nicht mehr atmen kann. Mehrere solcher Videos hat die 48-jährige Italienerin, eine Influencerin mit Hunderttausenden Fans, laut Polizei produziert – mutmaßlich um mehr Follower zu bekommen.

Für die Frau bedeuten diese Filmschnipsel mehr als einen bedenklichen Spaß, es geht ihr nicht nur um den Rausch, den Sauerstoffmangel im Gehirn kurzzeitig auslösen soll. Sondern um ihren digitalen Ruhm.

Die Filmchen hatten das Potenzial, junge Fans dazu zu verleiten, sich ebenfalls die Luft abzubinden. So sieht es die italienische Polizei und hat Ermittlungen aufgenommen – wegen Anstiftung zum Suizid.

Challenges finden in sozialen Medien statt

Challenges heißen solche Mutproben in den Netzwerken. Wer weiß, wie er danach suchen muss, findet auf Kurzvideo-Portalen wie Tiktok jede Menge davon. Die Carabinieri stufen solche Videos als „äußerst gefährlich“ für Minderjährige ein und haben den Account der Frau gesperrt.

Die Konsequenzen dieser Mutproben sind mitunter tödlich. In der sizilianischen Stadt Palermo herrscht noch immer Bestürzung, nachdem sich die zehnjährige Antonella im Januar so lange stranguliert hatte, bis sie bewusstlos wurde und starb.

Das Mädchen hatte vermutlich an einer „Blackout Challenge“ teilgenommen – deshalb geriet nun die 48-jährige Italienerin in den Fokus der Ermittler. „Antonellas Tod ist für uns alle eine Warnung und ein Aufruf“, mahnte Erzbischof Corrado Lorefice vor wenigen Tagen bei der Trauerfeier.

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    Bedrohliche Challenges können tödlich enden

    Antonella ist längst nicht das erste Opfer, das in den Sog eines Wettstreits geriet und die Kontrolle verlor. Eltern, die sich mit den Social-Media-Apps ihrer Kinder auseinandersetzen, packt der Grusel: Im vergangenen Jahr mussten deutsche Krankenhäuser Jugendliche behandeln, die sich bei der „Schädelbrecher“-Challenge verletzt hatten.

    Sie ließen sich beim Hochspringen die Beine wegtreten, sodass sie rücklings auf den Boden knallten. Außerdem sollen sich Dutzende Teenager die Speiseröhre verätzt haben, die im Rahmen der „Tide Pod Challenge“ Waschmittelkapseln aßen.

    Besonders bedrohlich ist die „Blue Whale Challenge“, bei der Kinder und Jugendliche in den Selbstmord getrieben werden sollen. Auf Plattformen wie 4chan tauchten verstörende Videos auf, die Teilnehmer beim Erfüllen ihres „Auftrags“ zeigen.

    Kinder erhoffen sich Ruhm aus den Challenges

    Wie groß ist die Gefahr, dass Jugendliche im Lockdown in eine digitale Parallelwelt abdriften? „Auch vor dem Internet gab es schon Mutproben“, gibt der Social-Media-Experte Hendrik Unger (31) gegenüber unserer Redaktion zu bedenken.

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      „Da sollten Jugendliche vom Hausdach springen oder an einer Deodose schnüffeln. So etwas machen Kids, wenn ihnen langweilig ist.“ Allerdings werden die Herausforderungen immer extremer, hat der Leiter einer Kölner Werbeagentur beobachtet, der Firmen in Social-Media-Belangen berät. „Die Teilnehmerzahlen sind in den letzten Jahren enorm gestiegen.“

      Nachahmer hofften, durch ein spektakuläres Video selbst zum Influencer zu werden. „Diesen Fame wollen die 13-Jährigen in den Kinderzimmern auch.“ Unger glaubt, dass die Faszination für Selbstverletzungen anhalten wird. „Die Leute sind bereit, für Likes alles zu riskieren. Irgendwann werden Menschen bereit sein, sich vor der Kamera eine Hand abzuhacken, wenn sie dafür eine Million Follower bekommen.“

      Eltern haben heute anderen Erziehungsauftrag

      Mutproben funktionieren nach dem Prinzip der „Ice Bucket Challenge“: 2014 ging die Herausforderung, sich einen Eimer eiskaltes Wasser über den Kopf zu schütten, viral. Jeder Teilnehmer forderte drei Freunde oder Bekannte auf, ebenfalls teilzunehmen – so wurde der Hype immer dynamischer. Nur dass es mittlerweile in den schlimmsten Fällen um Leben und Tod geht.

      Auch weil viele Kinder im Netz tun können, was sie wollen. Schon knapp die Hälfte der Sechs- bis Zehnjährigen ist ohne Aufsicht online, hat die Studie „Cyberlife III – Cybermobbing bei Schülerinnen und Schülern“ herausgefunden. „Ich finde, die Eltern haben heute einen anderen Erziehungsauftrag als vor 20 Jahren“, sagt Unger.

      Kinder allein zu lassen mit ihrem Smartphone hält er für falsch – „damit müssen sich Eltern auseinandersetzen“.