Berlin. Die Bundesregierung ist über einen möglichen dramatischen Anstieg bei Neuinfektionen besorgt. Bei den Iren ist das Horrorszenario wahr geworden.

Es wäre ein Horrorszenario: Deutschland beginnt nach einem mehrwöchigen harten Lockdown im Februar mit ersten Lockerungen – und just in diesem Moment schlägt eine hochinfektiöse Virusmutation zu. Genau das aber ist die Sorge, nicht nur im Kanzleramt. Angela Merkel mahnt zu maximaler Vorsicht. Ihr Argument: Irland.

Das Land, in dem das Horrorszenario wahr geworden ist. Harter Lockdown, Lockerungen, Verbreitung der Mutation, Kontrollverlust. Innerhalb von vier Wochen stieg die Sieben-Tage-Inzidenz von 40 auf über 900 Fälle. Die gefährliche Virusmutante ist längst in Deutschland angekommen.

Irland: Lassen sich die Verhältnisse noch abwenden?

Bislang sind nur Einzelfälle bekannt. Infizierte Reisende aus Großbritannien und Südafrika hatten hochinfektiöse Virusmutationen mit nach Deutschland gebracht. Doch das Bild könnte täuschen: Weil hierzulande bislang nur selten geklärt wird, um welche Virusvarianten es sich bei aktuellen Ausbrüchen handelt, kann niemand mit Sicherheit sagen, wie weitverbreitet die gefährlichen Mutationen in Wahrheit längst sind. Sicher ist nur, das zeigt der Blick auf Irland: Bekommt die Mutante eine Chance, schießt die Infektionskurve innerhalb weniger Tage fast senkrecht in die Höhe.

Spätestens am 25. Januar will die Kanzlerin mit den Länderchefs entscheiden, ob der aktuelle harte Lockdown über den ersten 31. Januar hinaus verlängert, verschärft oder gelockert wird. Gesundheitsminister Jens Spahn schließt Verschärfungen nicht aus: „Ob es weitere Einschränkungen braucht, darüber müssen wir in den nächsten Tagen mit den Bundesländern reden“, sagte der CDU-Politiker am Mittwoch.

Jens Spahn, Gesundheitsminister.
Jens Spahn, Gesundheitsminister. © Getty Images | Steffi Loos

Um das seriös zu begründen, müssen aber erst mal belastbare Daten her – nach dem Jahreswechsel dauerte das wegen Test- und Meldeverzögerungen bis jetzt. Zum Wochenende will RKI-Chef Lothar Wieler der Regierung nun einen Lagebericht liefern. Sollte der Trend nach einem Monat mit hartem Lockdown positiv sein, dürfte das eine Debatte über Lockerungen auslösen. Genau deshalb hat Merkel solche Sorge. Stichwort Irland.

Kontrollverlust in Irland: Wie konnte es so weit kommen?

Anfang Dezember galt Irland noch als Vorbild. Ein sechswöchiger Lockdown hatte dafür gesorgt, dass die Behörden die Pandemie offensichtlich weitgehend im Griff hatten. Das Land verzeichnete die tiefste Infektionsrate in Europa, und die Regierung lockerte die Einschränkungen. Aber nur wenige Wochen später schaut die Welt mit Entsetzen auf die Republik: Am Montag wies das Land die höchste Ansteckungsrate weltweit auf, die Krankenhäuser haben Alarm geschlagen.

Die Pandemie hat Irland innerhalb eines Monats regelrecht überflutet. Verantwortlich für die dramatische Eskalation ist unter anderem die neue Corona-Variante. Epidemiologen zufolge ist sie bis zu 70 Prozent ansteckender als die alte, in Irland wurde sie zuletzt bei 40 Prozent der positiven Fälle gefunden.

Gesundheitsexperten bemängeln die Krisenstrategie der Regierung – insbesondere die Lockerungen vor Weihnachten. Als die meisten europäischen Länder vor den Festtagen scharfe Einschränkungen einführten, blieben viele Pubs und Restaurants in Irland geöffnet. Am 18. Dezember zeigte sich der Krisenstab der Regierung besorgt, die Regierung reagierte wenige Tage später. Am 22. Dezember kündigte Premier Micheál Martin einen erneuten Lockdown an.

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Doch fielen die Beschränkungen nicht so streng aus wie in anderen Ländern: Während Pubs, Restaurants und Friseure am Heiligabend schließen mussten, waren Besuche bei Verwandten über die Weihnachtstage erlaubt. Auch blieben die meisten Läden geöffnet.

Der Gesundheitsdienst hat derzeit Mühe, die steigende Zahl an Patienten zu bewältigen. Medien berichteten, dass Sanitäter des Letterkenny University Hospital, im Nordwesten Irlands, am Sonntag Corona-Patienten in ihren Rettungswagen versorgen mussten, weil es im Krankenhaus keinen Platz gab. Auch andere Krankenhäuser sind an ihrem Limit. In einem Versuch, doch noch Herr über die Krise zu werden, kündigte die irische Regierung vergangene Woche eine Verschärfung der Einschränkungen an.

Deutschland: Welche Regeln könnten verschärft werden?

Strengere Ausgangsbeschränkungen, weniger als 15 Kilometer Bewegungsradius, Treffen nur noch mit den Mitgliedern des eigenen Hausstandes? Denkbar sei ja vieles, heißt es in den Staatskanzleien der Länder – nur: Im Moment sei das alles erstens Spekulation, zweitens oft im Alltag nicht realisierbar. „Was bringt eine nächtliche Ausgangssperre im Februar? Ich kenne keine Leute, die bei Minustemperaturen, bei geschlossenen Restaurants und Geschäften nachts herumlaufen“, sagt ein Spitzenbeamter.

Gesundheitsminister Spahn sieht vor allem Betriebe und Unternehmen in der Pflicht: Im ersten Lockdown sei die „Homeoffice-Rate“ deutlich höher gewesen, in Büros und auf dem Weg zur Arbeit gebe es immer noch jeden Tag sehr viele Kontakte. Bei Schulen und Kitas sehen vor allem die SPD-geführten Länder keinen Spielraum mehr: Merkels Einstellung sei falsch, Schulen und Kitas bis Ostern möglichst ohne Präsenzunterricht zu organisieren. Die Naturwissenschaftlerin, so die Wahrnehmung, würde am liebsten alle Schüler „wegsperren“, bis die Pandemie unter Kontrolle sei.

Bereits an diesem Donnerstag kommt die Corona-Taskforce des Kabinetts wieder zusammen – mit Merkel, Spahn, Vizekanzler Olaf Scholz, Wirtschaftsminister Peter Altmaier und Kanzleramtschef Helge Braun. Schwerpunkt der Runde wird die Impfkampagne sein.

Corona-Mutante: Wie soll die Mutation abgewehrt werden?

Drei Instrumente gibt es. Erstens: Je schneller die vulnerablen Gruppen geimpft werden, desto weniger brutal kann die neue Virusvariante zuschlagen. Zweitens: Bessere Viruskontrolle durch mehr genetische Untersuchungen an positiven Testproben. Drittens: Eine Verringerung des Virusimports durch neue Regeln für die Einreise. Bei Einreisen aus Staaten mit einer hohen Inzidenz oder in denen die hoch ansteckende britische Mutation des Virus grassiert, muss man von diesem Donnerstag an nachweisen, dass man keine Infektion mitbringt.

Es ist damit zu rechnen, dass alle Fluggesellschaften von jedem Passagier einen Test verlangen – ohne Test kein Flug. Beim Individualverkehr ist der Staat darauf angewiesen, dass die Reisenden sich verantwortungsbewusst verhalten: dass sie sich testen lassen und die digitale Einreiseanmeldung gewissenhaft ausfüllen. Kontrolliert wird jedoch nur stichprobenartig. (Emmrich/Stäuber/Braune/Sanches)