Berlin. Wie verschafft man sich als Opposition Gehör, wenn in der Corona-Krise alle auf die Regierung schauen? Die Grünen versuchen es mit einem Parteitag im Netz. Da gibt es nicht nur technische Probleme - es zeigt sich auch, wo es bald hakelig werden könnte.

Kein Applaus, keine Bühne, viele kleine Technikpannen - aber am Ende ein regulärer Beschluss: Mit einem Parteitag komplett im Internet haben die Grünen in der Corona-Krise ein Experiment gewagt.

Knapp 100 Delegierte beschlossen am Samstag aus ihren Arbeits- und Wohnzimmern heraus ein Konzept, das Wirtschaft und Gesellschaft nach der Krise wieder auf die Beine helfen soll. Herzstücke sind ein Konjunkturprogramm von 100 Milliarden Euro noch in diesem Jahr, das auch den Umwelt- und Klimaschutz voranbringen soll, mehr Geld für Bedürftige und Eltern sowie ein gemeinsamer Fonds der EU-Staaten von einer Billion Euro.

Die Parteispitze sprach von der Berliner Grünen-Zentrale aus, wo Klebeband auf dem Boden markierte, wo die Vorsitzenden Annalena Baerbock und Robert Habeck stehen können, ohne sich zu nah zu kommen. "Normalerweise passt auch zwischen Robert und mich eigentlich kein Blatt", scherzte Baerbock, nun seien es zwei Meter. Aber immerhin sähen sie sich nach mehr als sechs Wochen mal wieder persönlich.

In der Corona-Krise hatten es die Grünen zuletzt nicht einfach. In den Umfragen ging es von deutlich mehr als 20 Prozent runter auf 15 bis 16, der Klimaschutz hat seinen Spitzenplatz auf der politischen Agenda verloren. Als Trostpflaster für die zuletzt erfolgsverwöhnte Partei konnte der Politische Bundesgeschäftsführer Michael Kellner einen neuen Mitgliederrekord verkünden, erstmals ist die Mitgliederzahl über 100 000 geklettert.

Den Schwerpunkt legten Baerbock und Habeck auf soziale Fragen, Klimaschutz und Europa. Pflegeheime und Kitas müssten mit Schutzkleidung ausgestattet werden und über häufige Corona-Tests abgesichert werden, um Besuche und Normalbetrieb wieder zu ermöglichen, forderte Baerbock. Habeck betonte, man wolle Unternehmen zwar helfen - aber mit diesen dann auch einen "Pakt für Nachhaltigkeit" eingehen.

Winfried Kretschmann freilich, der erste und bislang einzige grüne Ministerpräsident, stimmte seine Parteifreunde per Videobotschaft aus Baden-Württemberg auf harte Zeiten im Kampf für den Klimaschutz ein. Denn das sei in einer schweren Wirtschaftskrise nochmal schwieriger. "Da ist Flexibilität gefragt, damit wir mit unserem Kernthema mehrheitsfähig bleiben", mahnte er. "Das wird uns allen viel abverlangen." Bangemachen lassen sollten sich die Grünen aber nicht von den Umfragen, sagte Kretschmann. Am Ende zähle, welche Partei einen Kompass habe, der in die Zukunft weise.

Beschlossen haben die Grünen unter anderem diese Forderungen:

- Ein Fonds in Höhe von 20 Milliarden Euro soll Kaufanreize in Form von Kauf-Vor-Ort-Gutscheinen sowie direkte Zuschüsse für den lokalen Einzelhandel, Gastronomie und Kultureinrichtungen finanzieren. - Hartz-IV-Empfänger sollen vorübergehend 100 Euro mehr bekommen, für Kinder soll es 60 Euro mehr geben. - Wer seine Kinder zu Hause betreuen muss, soll ein Corona-Elterngeld bekommen können. - Das Kurzarbeitergeld soll für kleine Einkommen auf 90 Prozent des Netto-Einkommens erhöht werden, auch Selbstständige sollen eine Art Kurzarbeitergeld bekommen können. - Über eine drastische Absenkung der Ökostrom-Umlage um 75 Prozent soll Strom spürbar billiger werden. - Ein gemeinsamer "Erholungsfonds" der EU-Staaten von mindestens einer Billion Euro soll durch gemeinsame Anleihen, sogenannte Euro-Bonds, finanziert werden.

Technisch war der Parteitag eine Herausforderung: Mal war die Kamera der Redner aus und mal das Mikrofon, mal war nur die Stirn zu sehen, manche waren nicht auffindbar, als sie eigentlich sprechen sollten. Von politischen Debatten ließen die Delegierten sich davon nicht abhalten - und scheuten wie üblich nicht vor Kritik zurück.

Ein Redner wunderte sich über "Kritiklosigkeit": Was "einige wenige Wissenschaftler" sagten, werde nicht hinterfragt. Eine andere wünschte sich einen kritischeren Blick auf die Einschränkung der Reisefreiheit in Deutschland, eine weitere fand den Titel des Leitantrags - "Eindämmung, Erholung und Erneuerung" - "viel zu nüchtern, zu mutlos und zu visionslos".

Die Bundestagsabgeordnete Canan Bayram aus Berlin-Kreuzberg sagte: "Wer das Vermögen hat, der muss es auch solidarisch der Gesellschaft zur Verfügung stellen, und der muss seinen Beitrag leisten." Die Vermögensteuer ist ein Thema, über das die Grünen immer wieder streiten - die Formulierung "Vermögensabgabe für Superreiche" wollte die Grüne Jugend im Leitantrag haben, sie wurde aber vor dem Parteitag wegverhandelt. Prompt warf der Parlamentarische Geschäftsführer der Linken im Bundestag ihnen einen "Wischiwaschi-Kurs" vor, eine Vermögensabgabe sei "zwingend".