Berlin. Einige Politiker fordern die Widerspruchslösung bei Organspenden. Doch was bedeutet die neue Regel, die Jens Spahn auch bevorzugt?

Jens Spahn schaut resigniert. „Ich sehe es doch in meiner Familie und bei meinen Freunden“, sagt der Gesundheitsminister. Klar, alle hätten die großen Kampagnen der vergangenen Jahre für die Organspende mitbekommen. Die Plakate, die Flyer, die Aufklärungsbriefe. Der Effekt jedoch? Gering. Kaum einer beschäftige sich ernsthaft mit der Frage, ob er im Todesfall Organe spenden will oder nicht.

Spahns Umfeld ist keine Ausnahme. Zwar halten acht von zehn Deutschen Organspenden für richtig, doch nicht einmal die Hälfte handelt auch danach: Nur 36 Prozent der Deutschen haben einen Spenderausweis.

Mit einer parteiübergreifenden Gruppe von Bundestagsabgeordneten schlägt der CDU-Politiker deswegen jetzt vor, das Spenderprinzip umzudrehen: Wer zu Lebzeiten einer Organspende nicht widerspricht, soll in Zukunft automatisch als Spender gelten. Am Montag hat die Gruppe Details dieser Widerspruchslösung vorgestellt. Der Gegenvorschlag liegt auch schon auf dem Tisch.

Organspende: Was ändert sich durch eine Widerspruchslösung?

Bislang gilt: Wer seine Organe spenden will, muss das dokumentieren, am besten per Spenderausweis. Nach dem Vorschlag der Gruppe um Jens Spahn und SPD-Gesundheitsexperte Karl Lauterbach brauchen willige Spender demnächst gar nichts mehr tun.

Ein Jahr lang sollen die Deutschen ausführlich und wiederholt über die neuen Regelungen informiert werden – danach soll gelten: Wer über 18 Jahre alt ist, wird im Fall seines Todes automatisch als Organspender behandelt. Es sei denn, er hat ausdrücklich widersprochen – und diesen Widerspruch in einem staatlichen Register hinterlegt. Jeder soll auf Dauer Zugriff auf dieses Register haben. Bis es so weit ist, sollen Ärzte im Auftrag ihrer Patienten den Eintrag übernehmen.

Vor einer möglichen Organentnahme muss der zuständige Arzt beim Register anfragen, ob ein Widerspruch vorliegt. Gibt es dort keine Willenserklärung, muss der Arzt den nächsten Angehörigen oder einen anderen offensichtlich nahestehenden Vertrauten fragen, ob es irgendwo sonst einen schriftlichen Widerspruch oder Hinweise auf einen klar geäußerten Willen gegen eine Organspende gibt.

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Scheidet auch das aus, kann transplantiert werden. Spahn und Lauterbach sprechen deswegen von einer doppelten Widerspruchslösung – erst die Anfrage ans Register, dann die Absicherung durch die Angehörigen.

Anders als viele Kritiker behaupteten, sei mit dieser Lösung kein Zwang verbunden – aber immerhin eine Pflicht: „Jeder hat damit die Verpflichtung, sich mit der Spenderfrage zu befassen“, so Spahn. CDU-Fraktionsvize Georg Nüßlein sieht Parallelen zu ähnlichen Regelungen bei anderen Fragen: „Wenn Sie kein Testament schreiben, müssen Sie mit der gesetzlichen Erbfolge klarkommen. Wenn Sie keine Patientenverfügung verfassen, müssen Sie mit lebenserhaltenden Maßnahmen rechnen.“

Eine persönliche Auseinandersetzung verlangt die Frage nun auch von jedem Abgeordneten des Bundestags: Das Parlament soll in den kommenden Wochen in die Debatte über die verschiedenen Modelle einsteigen und am Ende ohne Fraktionszwang über eine Reform entscheiden.

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Welche Risiken gibt es bei der Widerspruchslösung?

Das größte Risiko liegt weiterhin bei der Ermittlung des Patientenwillens. Immer dann, wenn Patientenerklärungen nicht vollkommen eindeutig sind, entsteht eine Grauzone: Das gilt für widersprüchliche Aussagen, Fragen der psychischen Autonomie zum Zeitpunkt der Erklärung bis hin zu medizinischen Unmöglichkeiten.

Zum Beispiel: Wenn jemand in seiner Patientenverfügung jegliche lebenserhaltende Maßnahme ablehnt, aber als Organspender behandelt werden will, kann das in der Klinik zu Problemen führen. Denn: Ist der Hirntod des Patienten zweifelsfrei festgestellt, müssen die Organe schließlich so lange stabil versorgt sein, dass sie im neuen Körper weiterleben können.

Auch Spahn sieht hier noch Klärungsbedarf: „Ich bin Organspender. Ich will aber auch nicht, dass die Maschinen unendlich lange laufen.“ Möglicherweise müssten die standardisierten Vordrucke für Patientenverfügungen hier angepasst werden.

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Welche Alternativen gibt es beim Thema Organspende?

Eine ebenfalls parteiübergreifende Parlamentariergruppe um Grünen-Chefin Annalena Baerbock und CSU-Gesundheitspolitiker Stephan Pilsinger schlägt eine neue Entscheidungslösung vor – die Widerspruchslösung dagegen sei falsch: „Die Regelung weckt Ängste und senkt das Vertrauen in die Organspende“, beklagen Spahns Kritiker.

Baerbocks Gruppe findet, es sei falsch, „Stillschweigen als eine Freigabe der eigenen Organe zu bewerten“. Ähnliche Bedenken hat auch der Ethikrat-Vorsitzende Peter Dabrock: „Damit wird für mich der Körper nach dem Hirntod zu einem Objekt der Sozialpflichtigkeit“, so der Theologe. Der Vorstoß der Widerspruchslösung sei unnötig und schädlich, da er Vertrauen beschädige und zu kaum mehr Effizienz bei der Organspende führe.

Der Alternativvorschlag sieht ebenfalls ein bundesweites Register vor. Eine zentrale Rollen spielen hier die Ausweisstellen: Sie werden verpflichtet, die Bürger mit Informationsmaterialien zu versorgen und beim Abholen ihrer Ausweispapiere – und damit spätestens alle zehn Jahre – zu einem Eintrag ins Organspende-Register aufzufordern. Der Eintrag soll auch vor Ort – sofort oder zu einem späteren Zeitpunkt – stattfinden können.

Das Register soll sämtliche Erklärungen umfassen, wie sie bisher auch auf dem Organspendeausweis möglich sind: Zustimmung, Ablehnung, Ausschluss beziehungsweise Auswahl bestimmter Organe und Gewebe sowie Übertragung der Entscheidung auf eine dritte Person. Wer sich nicht entscheidet, wird nicht registriert und gilt damit auch nicht als Organspender.

Risiken gibt es jedoch auch bei diesem Modell: Was passiert, wenn die Bürgerämter demnächst die Passverlängerung zunehmend auf digitalem Weg anbieten? Wird dann auch die Organspende-Entscheidung komplett digitalisiert – ohne persönlichen Kontakt auf dem Amt?

Mehrheitlich gegen eine Widerspruchslösung ist auch die FDP-Fraktion. „Das ist ein Einschnitt in die freie Selbstbestimmung der Menschen“, findet Fraktionschef Christian Lindner. Er persönlich sei Organspender. „Aber diese Entscheidung muss von jedem selbst getroffen werden.“ Die Liberalen gelten als Unterstützer einer Entscheidungslösung wie sie die Gruppe von Baerbock und Pilsinger vorschlägt.

Warum ist die Debatte um die Organspende die wichtigste Ethik-Debatte dieses Jahres?

In Deutschland kommen derzeit auf einen Organspender zehn schwerkranke Patienten auf der Warteliste. 2018 warteten 9400 Menschen auf ein lebensrettendes Organ, in 955 Fällen kam es zur Organspende. Der Druck auf die Politik ist deswegen groß.

Spahn hat darauf bereits reagiert – an diesem Montag ist ein Gesetz in Kraft getreten, das Ärzte und Kliniken, die Transplantationen durchführen, vor allem finanziell besser unterstützt. Denn: Die meisten Experten sind sich einig, dass die niedrige Zahl der Transplantationen in Deutschland in erster Linie an mangelhaften und unterfinanzierten Strukturen in den Krankenhäusern liegt. Sicher: Auch die Spendebereitschaft spielt eine Rolle. Ausweise sind nicht auffindbar, Patientenerklärungen uneindeutig, Angehörige überfordert. Doch deutlich wirksamer sind Defizite bei der Organentnahme.

Spahn könnte abwarten, welche Effekte die Neuregelung in der Praxis bringen. Immerhin ist die Zahl der Organspenden im vergangenen Jahr erstmals seit langem wieder angestiegen. Doch der Minister argumentiert vor allem mit den Schwerkranken, die dringend auf ein Spenderorgan hoffen: „Wir können nicht noch einmal drei Jahre warten.“ Sprich: Spahn setzt auf eine Doppelmedikation. „Das eine tun, das andere nicht lassen.“ Seine Hoffnung dahinter: dass am Ende allein schon die breite Debatte in der Öffentlichkeit und im Parlament zu einer neuen Spendebereitschaft führt – egal, welcher der beiden Vorschläge sich durchsetzt.

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