Berlin. Mütter und Väter lassen sich immer mehr einfallen, damit sie ihre Kinder nicht aus den Augen lassen. Experten sehen das aber kritisch.

Im Hort gab es einen neuen Erzieher. Sein erster Tag war stressig, und er hatte es nicht geschafft, sich allen 300 Elternpaaren vorzustellen. Als er dann dabei erwischt wurde, wie er mit einigen Jungs auf dem Hof Fußball spielte, alarmierten Mütter die Polizei, die den jungen Mann auf dem Schulhof zur Rede stellte. Vor den Kindern. Die Frauen hätten auch erst mal mit ihm sprechen können. Das kam ihnen gar nicht in den Sinn.

Diese Episode ist der dreifachen Mutter Carola Padtberg (41) aus Hamburg noch bestens in Erinnerung. Es sei alles sehr peinlich gewesen. Vielleicht war das auch mit ein Grund, das Thema der überbehütenden Eltern in einem Buch aufzugreifen. Der Titel klingt wie eine Anekdote: „Ich muss mit auf Klassenfahrt, meine Tochter kann sonst nicht schlafen“. Gemeint sind die „Helikopter-Eltern“, die ihre Kinder nicht aus den Augen lassen wollen.

Hebammen berichten darüber, dass Frauen schon in der Schwangerschaft über gefährliche Bakterien oder Keime im Sandkasten nachdenken. Natürlich auch über das Entführungsrisiko auf dem Schulweg. „Generation Rücksitz“, schimpfen Pädagogen über die immer betreuten Kleinen. Tatsächlich ist der Radius, in dem Kinder sich beim Spielen frei bewegen können, von durchschnittlich mehreren Kilometern in den Sechzigerjahren auf heute 500 Meter geschrumpft, so Studien.

Schule führte Elternhaltestelle ein

„Als Kinder sind wir zu Fuß zur Schule gegangen und hatten viele kleine Freiräume, auch mal Dinge anzustellen, weil wir alleine waren. Doch mittlerweile verschwinden diese – gerade in gewissen Schichten, wie zum Beispiel die der urban lebenden Akademiker“, so Carola Padtberg, die in ihrem Buch reihenweise Beispiele überbesorgter Eltern anführt.

Zum Beispiel die „Bring-Eltern“: Statt ihre Kinder alleine morgens loszuschicken, blockierten sie durch ihren Bringservice Straßenzüge in den Morgenstunden, um möglichst nah an die Schule heranfahren zu dürfen, ereifert sich die Autorin und nennt ein positives Beispiel.

Die Stadt Saarbrücken, die dieser Rushhour ein Ende bereiten wollte und sogenannte Elternhaltestellen eingeführt hat. „Der Erste, der auf die freie Elternhaltestelle zufährt, soll bis ganz nach vorne fahren. Dann kommt der Nächste hintendran und dann der Dritte“, erklärte eine Schulleiterin dazu.

Anderes Beispiel: Ärzte, die über überfüllte Notaufnahmen klagen, weil Eltern ihre Kinder schon wegen Lappalien in die Notaufnahme bringen. Und Erzieherinnen schütteln den Kopf über Sätze wie diese: „Die ersten Wochen durfte man sich unserem Patenkind nur im Flüsterton und mit langsamen Bewegungen nähern – es könnte überreizt werden.“ Eine Mutter verlangte in der Kita beheizte Klobrillen im Winter. Selbst die Bitte, das Eis vor dem Verzehr aufzuwärmen, sei vorgetragen worden.

Verhalten der Eltern ist eher schädlich

Für Erziehungsexperten, die durchaus erkennen, dass Eltern ihren Kindern Schutz bieten wollen, ist das Verhalten trotz aller Besorgnis eher schädlich, weil es die Entwicklung der Kinder blockiert. Eltern müssten ihren Kindern neben Sicherheit auch Freiheiten geben, sagt der Kinderarzt und Wissenschaftler Herbert Renz-Polster von der Universität Heidelberg. Am wichtigsten seien für Kinder Entdeckungsräume – und ausreichend Zeit, um „ihr Ding zu machen“.

Nur dann nämlich fällt es ihnen leichter, sich auch in der Pubertät den Anforderungen zu stellen, so Nicole B. Perry von der University of Minnesota. Die Ergebnisse ihrer Studien unterstrichen, wie wichtig es sei, dass Eltern die Autonomie ihrer Kinder unterstützten.

Es sei wichtig, öfter negative Gefühle zuzulassen, das sieht Carola Padtberg ganz genauso. „Wenn der Tablet-PC kaputtgeht, dann gibt es eben erst zu Weihnachten einen neuen“, sagt sie. Egal, auch wenn es Monate dauert.