Berlin. Joti Chatzialexiou, der Sportliche Leiter Nationalmannschaften, spricht im Interview über die Probleme im deutschen Fußball.

Joti Chatzialexiou ist in der Öffentlichkeit ein nahezu Unbekannter. Doch dem 42-Jährigen, seit 2003 beim Deutschen Fußball-Bund (DFB), kommt eine Schlüsselrolle bei der Aufgabe zu, den deutschen Fußball nach dem WM-Debakel wieder zum Erfolg zu führen. Der studierte Sportwissenschaftler, Sohn griechischer Einwanderer, ist seit Januar der Strippenzieher unterhalb des Nationalelfdirektors Oliver Bierhoff. In der neu geschaffenen Verbandsstruktur soll er die Frage beantworten, warum Nationen wie England, Spanien und Frankreich dem DFB enteilt sind, und wie die Lücke geschlossen werden kann. Dafür führt Chatzialexiou viele Gespräche. Neulich traf er die Sportdirektoren der Bundesliga, am Wochenende ehemalige Profis wie Simon Rolfes, Christoph Metzelder und Sebastian Kehl.

Herr Chatzialexiou, wie steht es um den deutschen Fußball im Moment?

Joti Chatzialexiou: Bis zum Sommer Sprachen wir von einer trügerischen Phase, in der sich der deutsche Fußball befand. Jetzt – nach der WM – sieht die Öffentlichkeit vieles kritischer als noch nach dem Gewinn des Confed Cups und der U21-EM. Aber wo befinden wir uns wirklich?

Sagen Sie es uns!

Joti Chatzialexiou: In den letzten 15 Jahren ist unglaublich viel geschehen und der deutsche Fußball hat einen enormen Qualitätssprung gemacht – dank des Talentförderprogramms, der Arbeit der Vereine in den Leistungszentren und dem gemeinsamen Wirken von DFB, Landesverbänden und Vereinen. Aber: Andere Nationen haben uns eingeholt und teilweise überholt. Daher benötigt der deutsche Fußball neue Impulse. Ich denke, wir müssen wieder dahin kommen, dass „Made in Germany“ ein Ausdruck von Weltklasse im Fußball ist. Wir müssen unseren Talentpool besser ausschöpfen. Für die Strukturen, die wir haben, werden wir in der Welt beneidet. Unsere Leistungszentren, die Förderinstanzen. Dieses System hat uns zum Weltmeistertitel 2014 geführt, aber nun bedarf es gewisser Anpassungen.

Welche sind das? Und wie radikal müssen die ausfallen?

Joti Chatzialexiou: Ich würde nicht von einer Revolution des deutschen Fußballs sprechen, sondern von einer Evolution. Unsere Gesellschaft verändert sich. Der Fußball verändert sich. Und dem müssen wir Rechnung tragen. Wir müssen mit der Zeit gehen.

Lassen Sie uns ins Detail gehen!

Joti Chatzialexiou: Wir haben vier Aspekte herausgearbeitet, in denen wir uns verbessern müssen: Mentalität, Variabilität, Individualität und Schnelligkeit/Dynamik. Dies waren Qualitätsmerkmale, die bei der WM in Russland erfolgreiche von den weniger erfolgreichen Mannschaften unterschieden haben. Der Fußball ist viel athletischer geworden. Dort sind wir fast an einer Grenze angelangt. Wir brauchen physisch schnelle Spieler, aber wir brauchen auch Schnelligkeit im Kopf. Das Thema Vororientierung ist wichtig und wird in Projekten der DFB-Akademie bereits angepackt. Der Raum-, Zeit- und Gegnerdruck hat immens zugenommen. Diesen zu beherrschen - da sind uns andere Nationen voraus. Die Spanier zum Beispiel. Wie sie sich vororientieren und sich damit trotz des hohen Drucks Vorteile verschaffen und sich dem Druck des Gegners entziehen, ist bemerkenswert. Möglicherweise spielen sie auch aufgrund der gesellschaftlichen Entwicklungen anders Fußball. Und da sind wir beim Thema Individualität. Uns ist in Deutschland die Bolzplatzmentalität abhandengekommen.

Was bedeutet das?

Joti Chatzialexiou: Wenn ich an meine Kindheit denke, dann haben wir alle noch auf dem Bolzplatz gespielt. Da konnte man sich noch ausprobieren, musste sich auch mal gegen Ältere durchsetzen. Das aber gibt es in Deutschland nur noch ganz selten. Wir müssen versuchen, den Straßenfußball wieder in die Vereine zu bringen, auch durch freies Spielen in den Trainingseinheiten.

Straßenfußball steht für das freie Ausprobieren, das Eins-gegen-Eins. Die Entfaltung von individuellen Stärken.

Joti Chatzialexiou: Richtig. Wir müssen uns fragen, wie wir dahin kommen, dass unsere Spieler wieder besser in Eins-gegen-Eins-Situationen sind. Wir haben uns dafür im Ausland umgeschaut. Die Belgier zum Beispiel spielen im F-Jugend-Bereich viel Zwei-gegen-Zwei. Sie steigern das dann zum Drei-gegen-Drei, Vier-gegen-Vier. Da müssen sich die Spieler in persönlichen Duellen durchsetzen. Uns ist diese Stärke teils verloren gegangen, und wir müssen das wieder in unser System integrieren. Der Kinder- und Jugendfußball spielt hier eine wichtige Rolle. Das wird dann nicht morgen zu sehen sein, sondern erst übermorgen. Aber das ist perspektivisch der richtige Weg. Die Spieler, die wir heute ausbilden, sind die, die 2024 die EM im eigenen Land oder die WM 2026 und 2030 spielen.

Ist es typisch deutsch, dass man schon in der Jugend viel aufs Gewinnen Wert legt und weniger auf den Spaß am Spiel? Schaut man auf Frankreich oder Spanien, dann werden dort Spieler viel mehr zum Dribbling ermutigt.

Joti Chatzialexiou: Wir brauchen eine neue Fehlerkultur in Deutschland. Neulich war ich zufällig bei einem Jugendspiel. Da habe ich einen kleinen Jungen beobachtet. Er war Verteidiger und durfte nicht über die Mittellinie. Aber dadurch verliert er doch irgendwann den Spaß am Fußball. Wenn es nur darum geht, zu funktionieren und mit allen Mitteln ein Spiel zu gewinnen, dann verlieren wir unsere Jugend. Wir müssen vor allem im Kinder- und Jugendfußball den Spaßfaktor wieder ins Zentrum stellen und den Stellenwert von Ergebnissen und Mannschaftstaktik dort immens reduzieren. Der einzelne Spieler und seine Entwicklung müssen in diesen Altersklassen im Fokus stehen, nicht das Ergebnis und der Erfolg der Mannschaft.

Ein Aspekt war auch die Mentalität. Was muss sich da ändern?

Joti Chatzialexiou: Wissen Sie, in Deutschland geht es uns sehr gut – wahrscheinlich so gut wie noch nie. Wenn ein Spieler den Extrameter nicht geht, den es braucht, um im Sport an die Spitze zu kommen, kann er trotzdem seinen Weg in der Gesellschaft machen. In anderen Nationen ist es anders. Da spielt der Fußball gesellschaftlich eine andere Rolle. Er ist teilweise der einzige Weg zu sozialer Anerkennung und einem unbeschwerten Leben. Wir müssen uns überlegen, ob wir bei aller Professionalisierung im Jugendbereich, den Spielern wieder weniger abnehmen sollten. Die Eigenständigkeit, dass sich die Kinder mal selbst durchsetzen müssen, die ist uns etwas verloren gegangen. Wie sollen sie diese dann in engen Situationen auf dem Spielfeld abrufen können?

Haben Sie sich mal mit Mehmet Scholl getroffen? Er hatte vieles von dem, was Sie analysiert haben, vor der WM schon angemerkt. „Die Kinder müssen abspielen, sie dürfen sich nicht mehr im Dribbeln ausprobieren“, sagte Scholl. „Stattdessen können sie 18 Systeme rückwärts laufen und furzen."

Joti Chatzialexiou: Sicher habe ich mich mit Mehmet getroffen. Er hat eine unglaubliche Erfahrung, hat viel erlebt. Und glauben Sie uns – wir sitzen hier nicht in einem Luftschloss und behaupten, allwissend zu sein. Daher tauschen wir uns mit vielen Personen aus der Fußballwelt aus. Mit Mehmet waren wir auf vielen Ebenen auf einer Wellenlänge. Er hat seine Ansichten vielleicht relativ provokant geäußert. Aber vom Grundsatz her liegen wir in vielen Themen nicht weit auseinander.

Bei der Debatte um Scholl ging es ja auch um Trainer. Er kritisierte die Generation der „Laptop-Trainer“ wie Domenico Tedesco und mahnte an, dass es auch Trainer mit Profierfahrung brauche.

Joti Chatzialexiou: Darüber haben wir uns auch unterhalten. Es geht nicht um entweder oder. Ich habe ihm aufgezeigt, dass wir an der Zusammenstellung unserer Trainerteams beim DFB arbeiten, um das Gute aus beiden ‚Welten‘ zusammenzuführen. Die hohen Anforderungen an einen Trainer - Sozialkompetenz, Fachwissen, analytisches Wissen, Führen eines großen Staffs - können von einem Trainer alleine kaum erfüllt werden. Deshalb besetzen wir unsere Trainerteams so, dass alle Kompetenzen miteinander vereint werden, jeder Trainer seine Persönlichkeit und individuellen Stärken einbringen kann. Daraus ziehen die Trainer untereinander Mehrwert und auch die Spieler. Wir haben Mike Büskens zur U15 geholt oder Hanno Balitsch bei der U18 eingebaut. Wir mischen junge Trainertalente, mit Ex-Profis und bestens ausgebildeten Fußball-Lehrern.

Haben Sie sich für Ihre Analyse im Ausland umgesehen, im Trainingszentrum der Franzosen und der Engländer zum Beispiel, die beide führend in der Welt sind?

Joti Chatzialexiou: Ich habe mir sehr viele Institutionen im Ausland angesehen. Ich war in Frankreich, Spanien, und auch viele Male in England. Wir müssen über unseren Tellerrand hinausschauen. Aber wichtiger ist für mich, was wir in Deutschland machen. Was ist unser Weg? Wir bauen ja auch unser neues Gebäude mit vielen Möglichkeiten. Aber das sind nur Steine. Viel wichtiger sind die Inhalte. Die DFB-Akademie ist der Motor für den deutschen Fußball. Aber wir warten nicht, bis das Gebäude steht. Denn das dauert noch etwas. Wir arbeiten jetzt schon an den Inhalten.

Wie soll der perfekte Nationalspieler der Zukunft aussehen?

Joti Chatzialexiou: Es gibt nicht den einen Spieler. Das ist sicher auch abhängig von den Positionen. Aber sicherlich sollte er unser sportliches Leitbild verkörpern – damit lebt er nämlich die deutschen Tugenden 2.0 – wie Leidenschaft, Respekt, Widerstandsfähigkeit, Teamgeist oder auch Zielstrebigkeit. Und er hat auch unsere Spielauffassung verinnerlicht – die als Leitplanken gelten, innerhalb derer er seine Individualität einbringen kann. Wir sind davon überzeugt, dass er dann beste Chancen hat, ein verdammt guter Fußballer und Nationalspieler zu werden.

Wir haben nun viel über die Zukunft gesprochen. In der Gegenwart sieht es nicht gut aus. Das Jahr 2018 könnte eins zum Vergessen werden. Die U19 hat die EM verpasst, die U17 ist in der Gruppenphase der EM rausgeflogen. Die A-Nationalelf ist in Russland früh gescheitert. Und nun droht gar der Abstieg in der Nations League. Was bedeutet das?

Joti Chatzialexiou: Hätten wir vor exakt einem Jahr gesprochen, hätte es ein anderes Bild gegeben. Wie eingangs erwähnt - da war der deutsche Fußball in aller Munde. Wir haben die U21-EM gewonnen und den Confed Cup mit vielen Talenten. Auch die grundsätzliche Art, wie wir Fußball spielen möchten, halte ich keineswegs für überholt. Wir wollen den Gegnern auch künftig nicht den Ball dauerhaft überlassen, wir wollen aktiv sein, das Geschehen auf dem Feld bestimmen. Und an den notwendigen Stellschrauben, damit wir auch in der Zukunft Weltspitze sein können, müssen wir jetzt drehen. Dies tun wir im ‚Projekt Zukunft‘. 2018 war sicher nicht erfolgreich. Aber das ist wie das Wetter: Mal gibt es ein Hoch, mal ein Tief. Wir sind auch mit der aktuellen Mannschaft wettbewerbsfähig. Wichtig ist, dass wir aus den Niederlagen unsere Schlüsse ziehen.

Inwiefern kann Bundestrainer Joachim Löw bei der Evolution des deutschen Fußballs helfen?

Joti Chatzialexiou: Wir haben einen guten Austausch mit Jogi und Marcus (Co-Trainer Sorg, Anm. d. Red.), der ja selbst U-Trainer war. Ich trenne das aber, was bei der WM passiert ist und was zuletzt bei der A-Nationalelf war von dem, was im Jugendbereich passiert. Man kann da nicht alles in einen Topf schmeißen. Das eine sind Entwicklungsprozesse, die langfristig laufen. Das andere sind kurzfristige Ergebnisse. Sicher, Siege sind immer wichtig. Dann hat man Ruhe für seine Entwicklung. Und in der Nations League ist ja auch noch nichts verloren. Wenn Frankreich die Niederlande schlägt, haben wir noch ein Endspiel gegen die Niederlande. In der ersten Liga zu bleiben, wäre gut für unsere Entwicklung. Wenn es aber nicht so ist, steigen wir eben wieder auf.