Sevilla. Erst hatten die Spanier große Probleme mit dem Toreschießen, dann trafen sie gegen die Slowakei gleich fünfmal. Nun wartet Kroatien.

Am Schluss liefen noch die Spielerkinder mit auf den Platz. Man sieht sich ja sonst nicht dieser Tage, wo ihre Väter in der Corona-Blase leben; da durfte die früher nur nach Titelgewinnen übliche Einlage ausnahmsweise vorverlegt werden. Außerdem: wer weiß schon, wann die nächste Gelegenheit kommt. Dass es mit den Siegen und Titeln nicht immer so leicht von der Hand geht, wie es mal schien, haben die Spanier schmerzlich gelernt. Es gilt die Feste zu feiern, wie sie fallen.

Mit dem 5:0 gegen die Slowakei wurde der ewige Maßstab der Goldenen Ära (EM 2008, WM 2010, EM 2012) dabei immerhin in einem Punkt überboten: so hoch war selbst damals nie ein Turnierspiel gewonnen worden. Nach Tagen der Zweifel und des Zorns, nach einem Fehlstart mit dem positiven Covid-Test von Sergio Busquets, distanziertem Fremdeln zu Stadion, Rasen und Publikum im heimischen Sevilla sowie zwei dürftigen Remis kam das überlegen herausgespielte Schützenfest zur rechten Zeit, es transportierte endlich wieder die rauschhafte Botschaft des 6:0 gegen Deutschland vom vorigen November. „Lizenz zum Träumen“, jubelt die Sportzeitung „As".

Spanien: Wie eine Mannschaft mit bipolarem Charakter

In der Presse interpretieren sie den Verlauf der EM-Vorrunde geradezu als Sinnbild für den bipolaren spanischen Charakter. Die Mannschaft immer zwischen den Extremen, erst (fast) keine Tore gegen Schweden (0:0) und Polen (1:1), dann gleich fünf. Die Fangemeinde genauso: vorgestern noch wüste Kritiken und Rücktrittsforderungen gegen einen angeblich unfähigen Nationaltrainer Luis Enrique, nun dessen Heiligsprechung zum Genie. „Wir sind selbst unser schlimmster Feind, ungeduldig und nur bei Rückenwind mit von der Partie“, hadert ein Kommentator der Sportzeitung „Marca“, er weiß ganz genau: „Der Waffenstillstand gilt bis Montag.“

Hat nach dem 5:0-Sieg gegen die Slowakei gut lachen: Spaniens Nationaltrainer Luis Enrique.
Hat nach dem 5:0-Sieg gegen die Slowakei gut lachen: Spaniens Nationaltrainer Luis Enrique. © AFP

Dann trifft Spanien im Achtelfinale auf Kroatien und steht ein definitiveres Urteil zu erwarten über die Stärke der „selección“. Die Vorrunde hat es nicht gefällt. Eine relativ leichte Gruppe nur als Zweiter beendet zu haben und damit jetzt in der schweren oberen Hälfte des Turniertableaus operieren zu müssen, bleibt eine Enttäuschung. Doch im Fußball liegt die Wahrheit vor allem im letzten Spiel, und nach dem 5:0 sprach niemand mehr davon, dass „Spanien schrecklich ist“, ja: „schrecklich, sie haben gar nichts zu bieten, sie spielen nur von einer Seite zur anderen.“

Die Worte stammten von Rafael van der Vaart, ehemals Star des Hamburger SV und Profi auch von Real Madrid, der sich mittlerweile den Dartpfeilen verschrieben hat und im niederländischen TV die Darbietungen des Heimatlandes seiner Mutter sezierte. Während so einer EM wird ja viel geplappert, aber irgendwie traf ausgerechnet er Spaniens Stolz ins Mark. Selbst in der Mannschaft schien es kaum ein anderes Thema zu geben. „Wir werden uns seine Worte aufheben, damit sie uns ein bisschen motivieren“, sagte Mittelfeldmann Koke. Die spanischen Medien, die ihrem Team nach den zwei Remis zu viel Phlegma und Selbstzufriedenheit unterstellten, feierten van der Vaarts Provokation daher euphorisch. „Vom Himmel gefallen“, nannte sie „As“, über „das Beste, was Spanien bei dieser EM passiert ist“, freute sich „El Confidencial“.

Revirements von Luis Enrique helfen den Spaniern

Und zack: ein 5:0. So einfach ist der Fußball? Vier allesamt gelungene Revirements von Luis Enrique halfen schon auch. Mit Eric García statt Pau Torres postierte er einen rechtsfüßigen Innenverteidiger an der Seite des linksfüßigen Aymeric Laporte. Den erfahrenen César Azpilicueta, Kapitän des Champions-League-Siegers Chelsea, erachtete er erstmals als kompetent genug auch für die Nationalelf. Der von seiner Covid-Erkrankung zurückgekehrte Barça-Stratege Sergio Busquets etablierte sich von der ersten Minute an als das Relais, das Spaniens Spiel gefehlt hatte. Und Angreifer Pablo Sarabia von Paris St. Germain brachte die vermisste Spritzigkeit. Sein Lattenschuss provozierte die groteske Torwartpanne, bei der sich Martin Dubravka den Ball zum 1:0 selbst ins Netz pritschte. Das 3:0 schoss Sarabia selber, das 4:0 legte er auf.

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„Entkorkt“, resümierte Luis Enrique in Anspielung auf eine Metapher, mit der er sein Team am Vortag als Sektflasche kurz vor der Öffnung bezeichnet hatte. „Wir haben klar aufsteigende Tendenz. Fragen Sie doch mal die Rivalen, ob die gern gegen Spanien spielen wollen!“ Sein kroatischer Kollege Zlatko Dalic hat das mittlerweile beantwortet: „Schweden wäre viel leichter gewesen.“ Bei der letzten EM siegten allerdings die Kroaten mit 2:1, eine Warnung für die Spanier: Bei so viel Schwarzweißmalerei lauert in guten Momenten immer die Gefahr der Selbstüberschätzung.