Berlin. Bundestrainer Alfred Gislason über die Olympia-Qualifikation und warum sein Enkel nur nach Hause kommt, wenn er Hunger hat.

Herr Gislason, fünf Wochen nach der WM in Ägypten und fünf Tage vor dem Olympia-Qualifikationsturnier in Berlin: Wo steht die deutsche Handball-Nationalmannschaft?

Alfred Gislason: Die Qualität, um die Olympiaqualifikation zu schaffen, haben wir nach der Rückkehr von vier Stammspielern. Mit ihnen wäre auch bei der WM in Ägypten einiges möglich gewesen. Wir müssen aber mit Vizeweltmeister Schweden oder Slowenien, dem EM-Vierten von 2020, eins von zwei Weltklasseteams hinter uns lassen. Das bleibt selbst mit einer guten deutschen Nationalmannschaft eine Herausforderung.

Welche Erkenntnisse haben Sie aus der WM gezogen? Sind Weltmeister und Olympiasieger Dänemark und Vizeweltmeister Schweden momentan eine Klasse für sich?

Gislason: Handball ist in Dänemark inzwischen ähnlich populär wie Fußball, auch die Liga hat einen beachtlichen Aufschwung genommen, sie wird immer stärker. Die Dänen haben eine hervorragende Breite, mit Torhüter Niklas Landin und dem Halblinken Mikkel Hansen zwei Topstars, die in engen Begegnungen den Unterschied ausmachen. Die Schweden sind wieder stark im Kommen, haben ebenfalls einen gut besetzten Kader und Spieler, die im richtigen Handball-Alter sind. Auch die Norweger haben sich in den vergangenen Jahren außergewöhnlich stark entwickelt. Im Gegensatz zu den Zeiten vor 30, 40 Jahren, als die Titel fast regelmäßig an die Sowjetunion oder Schweden gingen, können heute sechs bis acht Mannschaften die großen Turniere gewinnen. Die WM hat gezeigt, dass ein Platz besser oder schlechter meist davon abhängt, ob der eine oder andere wichtige Spieler dem jeweiligen Team fehlt.

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Gislason: Ein klares Ja!

Die meisten Weltklasseteams haben einen oder zwei Superstars in ihren Reihen, den Deutschen fehlt seit Jahren ein überragender Spieler für die spielentscheidenden Momente. Torhüter Henning Fritz war 2004 der bisher letzte deutsche Welthandballer, der zweite nach Daniel Stephan 1998. Was läuft da schief?

Gislason: Wir haben auch Weltklasseleute wie etwa Kiels Hendrik Pekeler. Der spielt als Kreisläufer und Abwehrchef nur nicht auf einer spektakulären Rückraumposition wie Mikkel Hansen oder der Norweger Sandor Sagosen. Die Bundesliga als stärkste Liga der Welt mag zudem bei der Entwicklung von Talenten eher hinder- als förderlich sein, weil vielen Clubs verständlicherweise der Erfolg näher liegt als die Ausbildung junger Spieler.

Viele wichtige Positionen sind zudem von Ausländern besetzt.

Gislason: Das wurde mir noch mal bewusst, als ich nach den WM-Absagen von Hendrik Pekeler, Steffen Weinhold und Patrick Wiencek nach Alternativen für die zentralen Abwehrpositionen suchte. Dar war in den Clubs extrem wenig Auswahl an deutschen Spielern. Auf der anderen Seite haben wir sehr gute Junioren wie den Göppinger Sebastian Heymann, der weltweit zu den Besten seines Jahrgangs 1998 gehört und den ich auch für Berlin nominiert habe. Verletzungen haben ihn in den vergangenen Jahren immer wieder zurückgeworfen. Die jungen deutschen Spieler sind eben weit größeren Belastungen ausgesetzt als der Nachwuchs anderer Länder. Das führt dann zu diesen zum Teil schweren Blessuren.

Handball-Bundestrainer Alfred Gislason.
Handball-Bundestrainer Alfred Gislason. © dpa

Ist die Bundesliga also schuld daran, dass die Erfolge der Nationalmannschaft gemessen an den hierzulande hohen Erwartungen überschaubar sind?

Gislason: Die Bundesliga ist Segen und Fluch zugleich. In ihr wird Handball auf höchstem Niveau gespielt, aber bei normalerweise 18, jetzt sogar aufgrund der Corona-Pandemie 20 Klubs bleibt nun mal kaum Zeit für die Nationalmannschaft. Darüber müssen sich alle im Klaren sein, das ist der Preis. Andere Nationen haben 12er- oder 14er-Ligen. Die Polen konnten ihre WM-Vorbereitung am 16. Dezember starten, wir dagegen erst am 3. Januar, zehn Tage vor dem Beginn der Weltmeisterschaft. Als Trainer des THW Kiel erging es mir ähnlich. Vor dem Final4 der Champions League in Köln hatten wir drei Tage zuvor noch ein Bundesligaspiel. Die spanische Liga ruhte zu diesem Zeitpunkt fast seit einem Monat. Eine Liga mit 16 Clubs scheint mir die optimale Größe. Die sollten wir mittelfristig anstreben. Aber dann, argumentieren die Vereine, würden ihnen die Zuschauereinnahmen von zwei Heimspielen fehlen, um ihre Spieler zu bezahlen. Ich fürchte, da wird sich wenig ändern. Seit 20 Jahren habe ich als Trainer die zunehmenden Belastungen beklagt, aber sie sind nicht weniger, sondern im Gegenteil durch zusätzliche internationale Wettbewerbe immer mehr geworden.

Für die Olympia-Qualifikation haben Sie von diesem Sonntag an nur fünf Tage Vorbereitungszeit. Dabei betonen Verband und Liga, wie wichtig für den deutschen Handball die Teilnahme an den Sommerspielen in Tokio ist. Fühlen Sie sich da veralbert?

Gislason: Ich verstehe die Nöte. Dadurch, dass die Bundesliga wegen Corona erst im Oktober anfangen durfte, fehlt die Zeit, um 38 Spieltage bis zum Juni durchzuziehen. Die Konsequenz ist, dass noch kein Nationaltrainer weniger Zeit zur Vorbereitung hatte als ich. Vor Olympia, falls wir uns qualifizieren sollten, wird die Lage ähnlich sein. Aber ich bin weit entfernt davon zu jammern. Wir müssen und werden die wenige Zeit optimal nutzen.

Als Bundestrainer werden von Ihnen herausragende Ergebnisse erwartet, Sie haben jedoch kaum Zeit, eine Mannschaft zu formen. Wie undankbar ist dieser Job?

Gislason: Ich weiß, was auf mich zukommt, wenn der Erfolg ausbleibt. Damit kann ich leben. Deshalb war die WM im Januar extrem wichtig, um sich kennenzulernen und einzuspielen, auch wenn wichtige Teile des Teams fehlten.

In Berlin kehren vier Spieler zurück, die der WM wegen Verletzungen oder aus persönlichen Gründen fernblieben. Fürchten Sie Probleme mit der sportlichen und menschlichen Integration? Ihr Torhüter Andreas Wolff hatte vor der WM ja wenig Verständnis für einige Absagen geäußert.

Gislason: Wenn es Probleme gab, sind die im Januar ausgeräumt worden. Pekeler, Weinhold, Wiencek und Wolff hatten schon in gemeinsamen Kieler Zeiten nicht immer dieselben Ansichten, aber sie sind alle in der Lage, damit wie Erwachsene umzugehen. Der Fokus liegt in Berlin allein auf dem sportlichen Erfolg. Alle wissen, was dafür zu tun ist, und was dafür tunlichst zu unterlassen ist. Ich mache mir da keine Sorgen. Und sportlich wissen ohnehin alle aus meiner Kieler Zeit, wie wir spielen wollen und worauf ich Wert lege.

Handball-Bundestrainer Alfred Gislason.
Handball-Bundestrainer Alfred Gislason. © dpa

Bob Hanning, der scheidende Verbandsvizepräsident, hat nach seinem Amtsantritt 2013 das Ziel Olympiagold für Tokio ausgegeben und rückt nicht davon ab. Sind solche Vorgaben Belastung oder Motivation?

Gislason: Natürlich wollen wir Titel holen. Das war für mich als Vereinstrainer immer eine selbstverständliche Zielsetzung. Wir müssen aber erst mal den ersten Schritt machen und uns für Olympia qualifizieren. Und das wird schwer genug. Danach können wir uns weitere Gedanken machen.

Ebenjener Hanning sagte auch, wer als Mannschaft Erfolg haben will, braucht einen isländischen Trainer. Was zeichnet Sie und Ihre Landsleute aus?

Gislason: (lacht) Das müssen Sie Hanning fragen.

Island mit seinen 365.000 Einwohnern hat nicht nur hervorragende Handballer, auch die Fußballer (und deren Fans) sorgten in den vergangenen Jahren für Furore. Wie sind die vielen sportlichen Spitzenleistungen von so wenigen zu erklären?

Gislason: Die Bedingungen, die Island für junge Leute schafft, sind unglaublich gut. Deutschland ist auch eine erfolgreiche Sportnation, wenn ich aber vergleiche, welche Sportmöglichkeiten es in meinem Geburtsort Akureyri im Norden Islands mit seinen 20.000 Einwohnern gibt und welche Kiel für seine 250.000 Bewohner vorhält, ist das ein gravierender Unterschied. In Akureyri, wo meine vier Enkel leben, stehen vier Handballhallen, eine für Eishockey, eine olympiataugliche Turnhalle sowie zwei beheizte Hallen für Fußball. Und hinter dem Ort verläuft eine alpine Skipiste. Mein siebenjähriger Enkel geht zweimal in der Woche zum Eishockey, dreimal zum Handball, hat noch zweimal Handball in der Schule, und am Sonnabend turnt er. Der kommt nur nach Hause, wenn er Hunger hat. Meine Tochter konnte dagegen in Kiel nur zweimal in der Woche, meist donnerstags und freitags Handball trainieren, hatte dann fünf Tage Pause.

Was können größere Gesellschaften davon lernen und übernehmen?

Gislason: Uns kommt zugute, dass Island so klein sind. Und weil Island so klein ist, versuchen wir aus jedem das Optimale an Leistung herauszuholen. Wir haben nicht die große Auswahl, wir brauchen jeden in der Gesellschaft und im Sport. Hinzu kommt, dass die Kinder und Jugendlichen von professionellen Trainern angeleitet werden. Alle vereint das Ziel, ins Ausland zu gehen, sie wollen in Dänemark oder Deutschland Handball oder in England Fußball spielen. Wenn sie zurückkehren, übernehmen sie eine A-, B, oder C-Jugend. In Deutschland gibt es Tausende Vereine, da fällt es weit schwerer, solche Modelle umzusetzen. Entscheidend für unsere sportliche Entwicklung dürfte auch gewesen sein, dass wir nach der Auflösung des Ostblocks zu Beginn der 1990er-Jahre deren Trainer ins Land geholt haben. Die wollte sonst niemand haben. Aber von ihnen habe unter anderem ich sehr viel gelernt.

Auf Ihrer Homepage, auf der Sie Seminare für Führungskräfte anbieten, steht über Sie: Sein Umfeld bestätigt seine inspirierende Einstellung, jederzeit dazulernen zu können, einen unbeugsamen Siegeswillen und die Fähigkeit, ungeahnte Kräfte in Teams mobilisieren zu können. Was haben Sie davon schon in Nationalmannschaft eingebracht?

Gislason: Ich hatte als Mensch und als Trainer immer den Anspruch, etwas dazulernen zu wollen, offen zu sein für neue Entwicklungen. Mein Wissen stelle ich auch meinen Spielern jederzeit zur Verfügung, ich bin bereit, Ihnen alles zu erklären. Ich habe nie zu einem Spieler gesagt: Halt‘s Maul und mach‘, was ich sage. Ich habe auch kein Problem zuzugeben, wenn ich etwas nicht weiß. Dann versuche ich, meine Wissenslücke zu schließen, und wir reden am nächsten Tag darüber. Mein Ansatz war immer, meine Spieler als meine Nachfolger auszubilden, sodass sie sich in das Denken eines Trainers hineinversetzen können.

Gute Trainer sind künftig mehr denn je gefragt, denn die Corona-Pandemie hat gerade für Nachwuchssportler dramatische Auswirkungen. Seit einem Jahr können sie nicht mehr gezielt trainieren, viele überhaupt nicht. Ihre sportliche Entwicklung ist unterbrochen. Befürchten Sie, dass hier eine Generation dem Spitzensport verloren geht?

Gislason: Ich weiß von unseren zahlreichen Videokonferenzen mit Verbandstrainern, wie sehr sie dieses Problem beschäftigt, wie sie mit allen Kräften versuchen, die jungen Spielerinnen und Spieler beim Handball zu halten. Wie groß der Schaden sein wird, können wir noch nicht absehen. Wir wissen aber, dass da eine gewaltige Aufgabe auf uns alle zukommt. Das gilt nicht nur für den Handball, auch für die Schulen.