Scharya. Der junge Jeside Dildal wollte über Belarus nach Deutschland fliehen. Die Geschichte einer gescheiterten Hoffnung auf einen Neuanfang.

Natürlich, sagt Dildal, will er es noch mal probieren. Seine Verwandten sind schon alle in Deutschland, und das Leben im Irak sei schwer, besonders für Menschen wie ihn, die zur Minderheit der Jesiden gehören. Er will sich wieder auf den Weg machen, wenn er genug Geld hat, um einen Schmuggler zu bezahlen. Und das trotz der Odyssee, die er und seine Familie durchlitten haben.

Scharya in der autonomen Region Kurdistan im Nordirak. In der Stadt leben Jesiden, Menschen, die von muslimischen Fanatikern als Teufelsanbeter bezeichnet werden. Im Sommer 2014 wurden Tausende Jesiden von den Terroristen des Islamischen Staats (IS) massakriert.

Dildal, 29, sitzt auf einem Sofa in einem Haus, er erzählt von dem gescheiterten Versuch, illegal nach Deutschland zu gelangen. Ob die Geschehnisse sich so zugetragen haben, lässt sich im Einzelnen nicht prüfen. Was er erzählt, deckt sich aber mit den Berichten eines Menschenschmugglers und anderer Migranten, mit denen unsere Redaktion gesprochen hat. Dildal untermauert das, was er berichtet, mit mehreren Videos.

Route über Belarus: Zuerst mit dem Flieger nach Minsk

Die Geschichten über die vermeintlich sichere Route über Belarus und Polen verbreiten sich im Spätsommer in Kurdistan wie ein Lauffeuer. Hunderttausende Jesiden leben hier als Flüchtlinge. Im vergangenen Jahr hat sich der IS reorganisiert. Fast 400 Menschen wurden bei IS-Attacken im Irak getötet.

„Aus Scharya sind vergangenes Jahr über 500 Familien gegangen“, erzählt Dildal. Nach langem Zögern beschließt auch er, sein Glück mit seiner Frau und seinem zweijährigen Sohn zu versuchen. Dildal hatte Handys repariert, verdiente 300 Dollar im Monat. Ein wenig Erspartes, eine große Summe Geliehenes, das Auto verkauft. So kratzt er die 24.000 Dollar zusammen, die er zahlen soll, damit ein Schmuggler ihn nach Deutschland bringt.

Das Geld deponiert er bei einer Vertrauensperson, es soll erst fließen, wenn das Ziel erreicht ist. Dafür gibt es das All-inclusive-Paket: Visa, Flug, Hotel in Minsk, Transport an die polnische Grenze und nach Deutschland. „Der Schmuggler hat gesagt, wir sind in ein paar Tagen in Deutschland“, sagt Dildal.

Ende September gibt Dildal seine Pässe in einem Reisebüro in Erbil ab, der Hauptstadt der kurdischen Autonomieregion. Reisebüros sind die Dreh- und Angelpunkte der Auswanderungswelle in diesen Wochen. Am 2. Oktober kommt die Familie in Minsk an. Sie bleiben fünf Tage in einem Hotel, dann werden sie mit 25 Migranten in Taxis in den Wald an die polnische Grenze gefahren, verbringen dort fünf Tage. Zwei Zäune stehen ihnen im Weg.

Kein Durchkommen: Polnische Grenzer sichern bei Usnarz Górny den Stacheldrahtzaun. Dahinter – im Niemandsland zwischen Polen und Belarus – campieren Flüchtlinge.
Kein Durchkommen: Polnische Grenzer sichern bei Usnarz Górny den Stacheldrahtzaun. Dahinter – im Niemandsland zwischen Polen und Belarus – campieren Flüchtlinge. © AFP | WOJTEK RADWANSKI

Belarussische Soldaten helfen den Schleusern

Am fünften Tag tauchen belarussische Soldaten auf. „Die haben den ersten Zaun aufgemacht, als wir gesagt haben, dass wir nach Polen wollen.“ Sie landen in einem wilden Camp, wo schon Hunderte Migranten warten. „Unser Schlepper war die ganze Zeit bei uns. Er hat den Soldaten am nächsten Morgen 1000 Dollar gegeben, damit sie uns an den Grenzzaun führen.“

Die Belarussen öffnen auch den Zaun direkt an der polnischen Grenze. Sie steigen in einen Transporter, fahren vielleicht eine Stunde. Dann hält sie die Polizei an. „Die Polizisten haben den Fahrer verprügelt und uns stundenlang in einer Station verhört.“ Dann bringt sie die polnische Polizei zurück an die Grenze und zwingt sie zurück in den Wald. Ein Pushback, verboten laut der Grundrechtecharta der EU, aber legalisiert durch das polnische Parlament. „Wir haben sechs Tage ohne Essen im Wald verbracht.“

Die Gruppe will es woanders versuchen. Sie laufen nach drei Tagen wieder belarussischen Soldaten in die Arme, diesmal werden sie verprügelt. „Sie waren wütend, weil wir wieder da waren.“ Wieder landen sie in einem Camp, diesmal ist es umzäunt. „Wir mussten für sie arbeiten und Petersilie pflücken.“ Nach zwei Tagen gelingt es Dildal und seiner Familie, mit sieben anderen zu fliehen. Erneut irren sie tagelang umher.

Dildal ist wieder zurück in Scharya im Norden des Irak.
Dildal ist wieder zurück in Scharya im Norden des Irak. © Jan Jessen | Jan Jessen

Dildal zeigt ein Video: Menschen kauern nachts um ein kleines Feuer, zittern, die Gesichter von zwei Männern sind geschwollen, voller Blutergüsse, andere haben Schnittverletzungen an den Händen. „Das sind wir“, sagt er.

Sie werden zum dritten Mal von belarussischen Soldaten aufgelesen und nach Minsk gebracht. Für die Fahrt knöpfen ihnen die Soldaten je 200 Dollar ab. Sie verbringen einige Tage in einem Hotel. Dann machen sie sich erneut auf den Weg, nach Litauen. Dort gibt es in Medininkai ein Camp, in dem über 8000 Menschen leben, 2000 davon Jesiden.

Ein Schlepper verdient 3000 Dollar pro Person

Videoanruf bei Ayaz. Er ist 26 und auch aus Scharya. „Ich bin seit fünf Monaten in diesem Camp“, sagt er. „Die Familien, die hier ankommen, werden weiter weggebracht, sie sagen, in die Städte. Uns sagt niemand, wie es weitergeht. Aber hier kommen jeden Tag Neue an.“

Dildal und seine Familie erreichen das Camp nicht. An einem Grenzfluss ist Schluss. „Da bekommt man elektrische Schläge, wenn man durch das Wasser will.“ Sie sind völlig erschöpft. Am Wegesrand liegt ein junger Mann. Er ist tot. Belarussische Soldaten bringen sie zurück nach Minsk. Wieder verbringen sie Tage in einem Hotel.

„Sie haben da gesagt, dass wir festgenommen sind und abgeschoben werden.“ Einem aus der Gruppe gelingt es, aus dem Fenster zu springen, er verschwindet. Der Rest wird in den Flieger zurück nach Erbil gesetzt. Am 6. Dezember landen sie im Irak.

Neue Route soll über Kroatien führen

Dildal zeigt ein Video. Es ist das Beweisvideo eines polnischen Fahrers, der eine Gruppe von der belarussischen Grenze nach Deutschland gebracht hat. Der Fahrer zählt die Menschen, die aus dem Fahrzeug stolpern: zwei Dutzend. Ein Schlepper verdient netto 3000 Dollar pro Person. Bei diesem Transport ein Reingewinn von fast 100.000 Dollar.

Dildal muss seinen Schlepper nicht bezahlen. Aber er hat auf der Reise 2800 Dollar ausgegeben. Ein Vermögen für ihn. „Ich will trotzdem versuchen, irgendwie nach Deutschland zu kommen.“
Die Reisebüros, die die Visa vermittelt haben, sind nun geschlossen. Die nächste Route steht aber schon, wird in Scharya gemunkelt – über Kroatien.