Berlin. Der Weltärztebund-Chef Frank Ulrich Montgomery warnt vor einer dramatischen Zuspitzung der Corona-Lage und erhebt schwere Vorwürfe.

Die Politik habe „komplett versagt“, sagt Frank Ulrich Montgomery, Vorsitzender des Weltärztebundes, im Interview mit unserer Redaktion. Weil sie die Warnungen vor einer schweren Corona-Welle im Herbst in den Wind schlug, steuern jetzt die Kliniken auf den Kollaps zu.

Die Ärzte müssen sich mit der bitteren Frage befassen, was zu tun ist, wenn das letzte Intensivbett vergeben ist. Viel Zeit zum Nachsteuern bleibt nicht. Schon ist die nächste, hoch ansteckende Virus-Variante in Europa angekommen.

Herr Montgomery, in der Nikolauswoche soll Olaf Scholz zum Kanzler gewählt werden. Wie hoch wird dann die Inzidenz sein?

Frank Ulrich Montgomery: Wir erleben gerade ein exponentielles Wachstum bei den Infektionszahlen. Aktuell liegt die Inzidenz bei rund 400. In der Nikolauswoche könnten wir Inzidenzen zwischen 700 und 800 haben. Das Problem ist, dass alle Maßnahmen, die wir jetzt noch ergreifen, selbst Kontaktbeschränkungen oder Lockdowns, nur mit einer Verzögerung von zwei Wochen wirken.

Ein Fortschritt beim Impfen schlägt sich sogar erst nach sechs Wochen in der Statistik nieder. Das heißt umgekehrt: Wir können nichts mehr daran ändern, dass am Tag der Kanzlerwahl von Olaf Scholz die Zahlen dramatisch hoch sein werden.

Der Vorsitzende des Weltärztebundes, Frank Ulrich Montgomery, erhebt schwere Vorwürfe gegen die Politik.
Der Vorsitzende des Weltärztebundes, Frank Ulrich Montgomery, erhebt schwere Vorwürfe gegen die Politik. © FUNKE Foto Services | Reto Klar

Fachleute warnen bereits, dass Anfang Dezember die ersten Kliniken in Deutschland triagieren müssen, weil sie nicht mehr alle Intensivpatienten behandeln können. Teilen Sie die Sorge?

Montgomery: Wir alle bereiten uns auf eine Triage vor. Bereits im vergangenen Herbst haben die medizinischen Fachgesellschaften und die Bundesärztekammer grundsätzliche Empfehlungen dazu ausgesprochen, um den betroffenen Ärzten im Notfall die Entscheidung zu erleichtern, welcher Patient den Vorzug bekommt.

Wir versuchen als Ärzte natürlich alles, um diese letzte entsetzliche Entscheidung abzuwenden. Aber angesichts der steigenden Infektionszahlen müssen sich die Kliniken vorbereiten. Wenn eine Triage nötig wird, sind alle Menschen gleich. Wenn wir Triage-Entscheidungen nicht vermeiden können, dann wird jeder Patient unabhängig von seiner Herkunft, seiner Religion oder auch der Frage, ob er geimpft ist oder nicht, betrachtet. Es zählt dann vor allem die klinische Erfolgsaussicht.

Vereinzelt haben bayerische Kliniken bereits Patienten ins Ausland verlegt …

Montgomery: Das ist nicht ungewöhnlich. In der ersten Pandemie-Welle haben wir anderen Ländern Hilfe geleistet. Jetzt werden andere Länder mit besseren Kapazitäten uns Hilfe leisten. Die systematische Verlegung von Covid-Patienten ins Ausland muss jetzt eingeleitet werden. Dabei muss auch die Bundeswehr helfen.

In welche Länder sollten Patienten verlegt werden?

Montgomery: Es gibt um uns herum Länder mit sehr viel günstigeren Inzidenzen. Frankreich geht es etwas besser als uns, Italien geht es deutlich besser. Aber auch dort steigen die Zahlen. Man darf die Solidarität nicht überfordern. Wir reden im Moment von rund 4000 Covid-Patienten auf den Intensivstationen.

Wenn die Zahlen weiter steigen, geht es nicht darum, zehn Patienten auszufliegen. Dann geht es um Hunderte oder sogar Tausende, für die die Intensivbetten knapp werden. Das ist eine Größenordnung, die man nicht mit Verlegungen ins Ausland lösen kann.

Was hilft jetzt?

Montgomery: Was am schnellsten und besten hilft, sind Kontaktbeschränkungen. Wir müssen in den kommenden Wochen jede Form von Menschenansammlungen vermeiden. Wir sollten deswegen die Weihnachtsmärkte bundesweit schließen. Es bringt nichts, die Weihnachtsmärkte in der einen Region zu verbieten, wenn die Leute dann in eine andere fahren, wo sie noch geöffnet sind. Länder und Kommunen sollten zudem zu Silvester größere Feiern, Feuerwerk und private Böllerei flächendeckend verbieten.

Das verhindert nicht nur Ansteckungen, sondern entlastet auch die Notfallambulanzen. Mittelfristig hilft aber nur das Impfen: Wir brauchen eine allgemeine Impfpflicht. Wenn sich die Leute ihrer sozialen Verantwortung nicht bewusst sind oder sie nicht wahrnehmen wollen, dann muss man sie etwas rigider daran erinnern. Bei einer allgemeinen Impfpflicht – wenn von der Stiko ermöglicht, ab fünf Jahren – könnten bald sämtliche Maßnahmen wegfallen. Wir hätten unser altes Leben zurück.

Müssen Ausgangssperren oder flächendeckende Betriebsschließungen wieder möglich sein?

Montgomery: Es war ein kapitaler Fehler der Politik, zu sagen, dass es nie wieder einen Lockdown geben werde. Man darf in einer Pandemie niemals nie sagen. Man muss immer alle Instrumente im Werkzeugkasten haben. Wenn wir die Inzidenzen nicht in den Griff bekommen, müssen wir die Maßnahmen verschärfen Man muss dann auch wieder flächendeckend Betriebe schließen oder Ausgangssperren verhängen können.

Ist die Wucht der 4. Welle eine Folge politischen Versagens?

Montgomery: Die Wissenschaft warnt seit Juli vor einer schweren Herbstwelle und davor, dass die Wirkung der Impfungen nach sechs Monaten nachlässt. Es lag alles auf dem Tisch. Die Politik hat in meinen Augen komplett versagt. Statt rechtzeitig zu handeln, haben die Parteien mit der Pandemie Wahlkampf gemacht.

Vor allem die FDP wollte die epidemische Notlage auf keinen Fall verlängern …

Montgomery: Man kann den Menschen in dieser Lage nicht die verführerische Karotte der Freiheit vor die Nase hängen. Die Freiheit zum Leben, wie die FDP behauptet, ist in Wirklichkeit eine Freiheit zu Krankheit und Tod. Wenn man das nur macht, um Wählerstimmen zu bekommen, ist das schäbig.

Wir leben jetzt fast zwei Jahre mit der Pandemie. Eine Ende ist nicht Sicht. Im Gegenteil: Mit der Variante B.1.1.529 droht schon die nächste Welle. Hätten Sie am Anfang erwartet, dass es so lange dauert?

Montgomery: Wir alle haben diese Pandemie am Anfang unterschätzt. Auch ich habe gedacht, das sei eine Variante der Grippe. Zwischendurch glaubten wir dann, wir könnten Herdenimmunität erreichen, doch dann kam mit Delta eine hochinfektiöse Variante. Jetzt wissen wir, dass wir noch Jahre lang die Welt weiter impfen müssen.

Wir dürfen dem Virus keine Chancen zur Mutation geben, indem wir jede nur mögliche Infektion verhindern. Die neue südafrikanische Variante ist ein gutes Beispiel dafür. Noch wissen wir nichts Genaues zu seiner Gefährlichkeit – aber es scheint sich rasend schnell auszubreiten. Meine große Sorge ist, dass es zu einer Variante kommen könnte, die so infektiös ist wie Delta und so gefährlich wie Ebola. Je weniger Infektionen wir zulassen, desto besser.

Werden wir jedes Jahr Booster-Impfungen brauchen?

Montgomery:Boostern steigert den Immunschutz. Noch wissen wir aber nicht genau, wie lange der Schutz anhält. Vielleicht müssen wir jedes Jahr auffrischen.

Deutschland wollte 100 Millionen Impfdosen an arme Länder spenden, die Quote ist noch lange nicht erreicht. Jetzt werden die Biontech-Lieferungen gestoppt – wegen Eigenbedarf.

Montgomery: Wir müssen abwägen. Einerseits sind Länder, die den Impfstoff nicht herstellen oder bezahlen können, auf unsere Hilfe angewiesen. Andererseits kann man einem 80-Jährigen in Deutschland nicht erzählen, dass er deswegen jetzt in Isolation bleiben muss. Bei den stark steigenden Infektionszahlen brauchen wir den vorhandenen Impfstoff im Moment selbst.

Wir sollten uns aber bemühen, zusätzliche Dosen zu produzieren. Erschreckend ist, dass Länder wie China oder Russland ihren eigenen Leuten Impfstoffdosen vorenthalten, um sich damit in anderen Ländern Einfluss zu verschaffen.

Nehmen wir an, Deutschland bekommt jetzt eine Gesundheitsministerin von der SPD. Was muss sie in den ersten 100 Tagen erreichen?

Montgomery: Erstens: Wir brauchen bundeseinheitliche Maßstäbe für Corona-Maßnahmen. Zweitens: Sie muss ausreichend Impfstoff besorgen und die Versorgung für die nächsten Jahre sicherstellen. Drittens: Sie muss die Krankenhäuser stärken, vor allem das Pflegepersonal. Viertens: Sie sollte einen fairen Umgang mit den Hausärzten pflegen. Spahn hat die Praxen beim Impfen mehrmals schlicht überfahren.

Ein Traumjob ist das nicht, oder?

Montgomery: Nein. Gesundheitsminister war nie ein Traumjob. Weder von der Arbeitsbelastung noch vom Renommee her. Aber er ist einer der schönsten Jobs in einer Regierung. Als Gesundheitsminister können sie helfen, Menschenleben zu retten und für soziale Gerechtigkeit sorgen.