Suhl. Der umstrittene Ex-Sozialdemokrat Thilo Sarrazin macht für den Ex-Verfassungsschutzchef Hans-Georg Maaßen Wahlkampf in Südthüringen.

  • In Suhl absolvierte CDU-Kandidat Hans-Georg Maaßen einen Wahlkampfauftritt mit dem früheren SPD-Mitglied Thilo Sarrazin
  • Die umstrittenen Politiker sprachen über Umweltpolitik - über Laschet wollte Maaßen nicht reden
  • Gegen Maaßens Kandidatur gab es Proteste

Die dunkel gepolsterten Stühle, die im gebotenen Abstand im Saal „Simson“ des Suhler Kongresszentrums aufgebaut wurden, sind alle besetzt, einige Menschen lehnen an den Wänden. Vorne, auf der Bühne, sitzen zwei ergraute und bebrillte Männer, die schon jeder für sich die Republik in verlässlichem Rhythmus in Wallung bringen: Hans-Georg Maaßen und Thilo Sarrazin.

Nun, an diesem Donnerstagabend, sind sie öffentlich vereint. Die örtlichen CDU-Funktionäre, die in genau diesem Raum Ende April Maaßen mit großer Mehrheit zu ihrem Direktkandidaten für die Bundestagswahl nominierten, freuen sich sichtlich über die politische Kernfusion.

Maaßen und Sarrazin: Veranstaltung kurzfristig verlegt

Aus ihrer Sicht ist der Coup sogar ein doppelter. Die Veranstaltung wurde kurzfristig vom knapp 30 Kilometer entfernten Meiningen nach Suhl verlegt, angeblich aus Sicherheitsgründen, weil sich, wie es heißt, Demonstranten angekündigt hätten. Ein erwünschter Nebeneffekt: Die meisten Journalisten, die nicht über die Änderung informiert wurden, sind nun draußen. „Die irren gerade vor dem Volkshaus in Meiningen umher“, freut sich ein CDU-Stadtrat.

Nun also ist man nahezu unter sich, auch im Publikum überwiegend Männer, die ebenso überwiegend älter sind. Für die interessierte Presse, das sagt der Meininger CDU-Kreischef noch rasch, werde das Gespräch per Internet übertragen. Danach beginnt der Moderator, ein regionaler Journalist, ausschließlich freundliche Fragen zu stellen, in denen von „Merkels Politbüro“ die Rede ist und davon geraunt wird, dass alles ja beinahe wieder sei wie in der DDR – was beide Protagonisten gerne und wortreich bestätigen.

Maaßen beklagt Hypermoral

Überhaupt wird viel bestätigt, vor allem sich gegenseitig. Maaßen beklagt „die Entkernung der Werte der CDU und dass die „Hypermoral an die Stelle des Rechts gesetzt“ werde, worauf Sarrazin sagt: „Ich gebe Ihnen da völlig Recht, Herr Maaßen.“

Rasch ist man bei der Migrationspolitik. Es könne ja jeder, sagt Sarrazin, gerne „freundlich sein zu Geflüchteten, wie man heute sagt“. Aber der Staat müsse nun mal dafür sorgen, dass die Gesellschaft funktioniere, und dazu gehöre, dass er sich an die eigenen Asyl- und Abschieberegeln halte.

Maaßen und Sarrazin auf einer Wahlkampfveranstaltung in Südthüringen.
Maaßen und Sarrazin auf einer Wahlkampfveranstaltung in Südthüringen. © Martin Schutt/dpa-Zentralbild/dpa

Windräder sind eines von Maaßens Lieblingsthemen

Groß ist die Einigkeit auch beim Klimaschutz. Die Politik beschäftige sich mit Dingen, die sie nicht ändern könnte, zum Beispiel den Klimawandel, sagt Sarrazin. Schließlich verursache Deutschland nur einen Anteil von zwei Prozent am weltweiten Ausstoß von Kohlendioxid. „Man sollte nicht so tun, als ob die Frage, wie viele Windräder im Thüringer Wald stehen, irgendetwas zu tun habe mit dem Hochwasser an der Ahr“, sagt er.

Windräder – das ist eines von Maaßens Lieblingsthemen. „Wir haben es mit Fanatikern zu tun“, sagt er über Klima- und Umweltpolitiker. Ihnen sei „völlig egal“, wenn der Thüringer Wald durch Windräder „zerstört“ würde, die „Milane schreddern“, und „Menschen quälen“. Denen sei völlig egal, was mit den Leuten auf dem Land passiert.“

Schließlich sagt Maaßen: „Wir haben in unserer Geschichte schon Fanatiker gehabt, die das Land an den Rand des Ruins getrieben haben.“ Sarrazin zuckt nicht einmal bei diesem bemerkenswerten Satz. Er ist ausschließlich hier, um mit dafür sorgen, dass der Mann, der neben ihm sitzt, demnächst im Bundestag sitzt.

Maaßen will nicht von Laschet reden

Die frühere DDR-Bezirksstadt Suhl liegt im Wahlkreis 196, der das südliche Thüringen umfasst. Auf einer Fläche, die größer als das Saarland ist, leben keine 300.000 Menschen, es gibt viel Feld und Wald, Bayern ist nah, aber Großstädte sind fern. Hier will der in Berlin wohnhafte Ex-Beamte Maaßen für die Union gewinnen.

Allerdings, dass es sich um eine CDU-Veranstaltung handelt, lässt sich im Saal „Simson“ optisch nicht erkennen. Links und rechts vom Podium sind zwei Aufsteller mit dem Konterfei des Kandidaten aufgebaut, darüber steht „Erststimme Maaßen“. Ein Parteilogo ist nirgendwo zu sehen. Er versuche, sagte Maaßen kürzlich ganz offen, gegen den miesen Bundestrend zu segeln. Also, am besten nicht zu oft von der CDU oder gar Armin Laschet reden.

Sarrazin publizierte immer mehr Bücher

Das passt von der Anmutung recht gut zu Maaßens Gast, der fast ein halbes Jahrhundert in der SPD war, bevor er im vergangenen Jahr ausgeschlossen wurde. Überhaupt scheint sich bei den beiden Männern vieles zu fügen, biografisch, ideologisch und habituell. Beide sind mehr oder minder stark alternde Männer, die einst wichtige Ämter innehatten, zu akademischen Vorträgen neigen und seit Jahren mit möglichst strittigen Thesen auffallen.

Thilo Sarrazin, auf der Flucht seiner Eltern 1945 im thüringischen Gera geboren, wuchs wie Maaßen in Nordrhein-Westfalen auf, um dann als promovierter Volkswirt im Bundesfinanzministerium Karriere zu machen. In den Nullerjahren amtierte er für die SPD als streitbarer Berliner Finanzsenator und saß kurz im Vorstand der Bundesbank, bis er sich öffentlich in Interviews und seinem ersten Buch „Deutschland schafft sich ab“ immer abfälliger über Migranten äußerte, und dies teils genetisch begründete.

Im Jahr 2015, mit der sogenannten Flüchtlingskrise, stand Sarrazin endgültig im Zentrum einer sich immer stärker polarisierenden Debatte. Doch er publizierte ungerührt immer mehr Bücher, derweil die SPD-Spitze vergeblich versuchte, ihn auszuschließen, bis sie schließlich im dritten Verfahren im Sommer 2020 vor dem Bundesschiedsgericht Erfolg hatte.

Protagonist des rechtsäußeren Parteivereins "Werteunion"

Maaßen ist 17 Jahre jünger als Sarrazin, doch ansonsten weist sein Werdegang verblüffende Parallelen auf. Als promovierter Jurist stieg er im Innenministerium auf, spezialisierte sich in der Asylpolitik, um schließlich 2012 Präsident des Bundesverfassungsschutzes zu werden. Er polarisierte im Amt so lange, bis er 2018, als er die rechtsextremen Ausschreitungen in Chemnitz relativierte, in den einstweiligen Ruhestand versetzt wurde.

Die damalige CDU-Vorsitzende Annegret Kramp-Karrenbauer forderte später Maaßen auf, die CDU zu verlassen – was dieser aber ignorierte. Stattdessen wurde er zum Protagonisten des rechtsäußeren Parteivereins „Werteunion“ und vertrat Positionen, die direkt aus dem AfD-Wahlprogramm stammen könnten.

Schließlich, Ende April dieses Jahres, ließ er sich in Südthüringen gegen den Willen der Parteiobrigkeit zum Direktkandidaten der CDU aufstellen. Zuvor war den trotzigen Kreisverbänden ihr Abgeordneter Mark Hauptmann nach einem besonders üblen Maskenskandal abhandengekommen.

Maaßen präsentiert sich als "Anwalt der Region"

Seit der Nominierung des Ex-Verfassungsschutzchefs ist der Wahlkreis 196 zum politischen Hauptkampfgebiet geworden. Ganze Scharen von Journalisten kamen und berichteten, wie Maaßen über die Dörfer tourte und sich als „Anwalt der Region“ präsentierte, der in Berlin gegen Stromtrassen und für Ortsumgehungen kämpfen wolle. Dazu gab er viele Interviews, bevorzugt in rechtslastigen Medien, in denen er dem öffentlich-rechtlichen Rundfunk pauschal Propaganda unterstellte und den Grünen totalitär-affinen „Ökosozialismus“ vorwarf. Und die AfD? Diese Partei, sagte er sinngemäß, spreche wichtige Probleme an, könne sie aber nicht lösen, weil sie ja in der Opposition bleiben werden.

Maaßen lud Gäste ein, vor allem aus dem rechtskonservativen „Berliner Kreis“ im Bundestag. Politrentner Wolfgang Bosbach schaute vorbei, Polizeigewerkschaftschef Rainer Wendt war gleich zweimal da. Die Botschaft lautete: Wir sind nicht allein.

Nun also Sarrazin, zwei tapfere Kampfschwimmer gegen den politisch-medialen Mainstream. Er stehe gegen die „Einschränkung von Meinungsfreiheit“, sagt Maaßen, gegen die „Ausgrenzung von Andersdenkenden.“ Im Osten, in Thüringen besäßen die Menschen „ein feineres Sensorium“; im Westen hingegen hätten sie „den Schuss noch nicht gehört“. Viel Beifall.

Sarrazin attackiert Angela Merkel

„Weshalb sitzt Herr Maaßen jetzt hier?“, fragt Sarrazin rhetorisch in den Saal und gibt gleich die Antwort. Er habe als Bundesverfassungsschutzpräsident den „moralischen Klassenstandpunkt“ der Bundeskanzlerin, dass es Hetzjagden in Chemnitz gab, einfach verraten. „Da war er weg.“

Und so geht es zwei Stunden lang. Maaßen schimpft über die Medien, die „nur noch das“ schrieben, was sie selbst hören wollten – oder sollten. Sarrazin attackiert Angela Merkel wegen ihres Einspruchs gegen die Wahl des Thüringer FDP-Ministerpräsidenten Thomas Kemmerich mit Hilfe der AfD. Dass eine Bundeskanzlerin aus Südafrika „in ein deutsches Bundesland hineinregiert“, das habe es „in dieser Form noch nicht gegeben“.

Und dann zieht auch Sarrazin seinen eigenen historischen Vergleich. „Das hat durch faktisches Handeln die Demokratie außer Kraft gesetzt“, sagt er und fragt: „Wie hat es denn funktioniert zum Beginn der Naziherrschaft?“. Seine Antwort: „Genauso“, wie etwa mit dem Preußenschlag. „Da begannen die Verfahren, wo man an den zuständigen Organen vorbei die Dinge geregelt hat“, da habe die Gestapo die Menschen abgeholt und ins KZ gebracht.

Dann, fast am Ende, sagt der Mann, der fast ein halbes Jahrhundert Sozialdemokrat war: „Man muss nicht jede Radikalisierung mitmachen.“