Washington. Bei ihrem letzten Staatsbesuch in den USA trifft Angela Merkel Joe Biden und Kamala Harris. Außerdem bekommt sie einen Titel verliehen.

Auftakt Merkel in Washington: Um 9.05 fährt die Kolonne der Bundeskanzlerin am Amtssitz von Vizepräsidentin Kamala Harris vor. Merkel im goldgelben Blazer. Harris im dunkelblauen Hosenanzug. Bevor die Gastgeberin zum Frühstück lud, sagte Harris, sie fühle sich sehr geehrt, die Kanzlerin empfangen zu dürfen.

Für Vize-Kanzler Olaf Scholz hatte Kamala Harris neulich keine Zeit. Für Angela Merkel ließ Amerikas Vize-Präsidentin am Donnerstagmorgen in ihrem frisch renovierten Domizil am „Naval Observatory” an Washingtons feiner Massachusetts Avenue den Frühstücks-Tisch garnieren.

Noch nie empfing Amerikas Nr. 2 die deutsche Regierungschefin an ihrem Amtssitz. Noch nie traf Merkel die erste Vizepräsidentin in der US-Geschichte im persönlichen Gespräch. Für die Bundeskanzlerin war der 45-minütige Abstecher in die Villa aus dem 19. Jahrhundert der weiblich-herzliche Auftakt in einen prall gefüllten, schwül-heißen Tag in der US-Hauptstadt, der Antritts- und Adieu-Charakter zugleich hatte.

Seit Präsident Joe Biden vor sechs Monaten ins Amt kam, ist Merkel die erste europäische Regierungschefin, die im Weißen Haus empfangen wurde. Weil sie nach 16 Jahren Kanzlerschaft bei der Bundestagswahl im September nicht mehr antritt, ist es gleichzeitig ihr politischer Abschiedsbesuch. Und das an einem tragischen Tag. Aus der deutschen Botschaft sandte Merkel sichtlich erschüttert den Opfern der Hochwasser-Katastrophe daheim ihre Anteilnahme und sicherte Hilfen zu.

Warme Worte zur Begrüßung

Biden wartet nur Sekunden mit der ersten Charme-Offensive. Angela Merkel hat gerade erst im Sessel neben ihm im Oval Office Platz genommen. Da nennt der amerikanische Präsident den Gast aus Deutschland eine „große Freundin, eine persönliche Freundin und eine große Freundin der Vereinigten Staaten”. Die Kanzlerin, es ist schon der vierte Termin an einem drinnen klimaanlagengeeisten und draußen brütend heißen Tag in Washington, muss kurz hüsteln. Dann gibt sie die warmen Worte mit einem Lächeln zurück.

„Ich freue mich hier zu sein. Ich schätze diese Freundschaft sehr, ich weiß, was Amerika für die Geschichte eines freien und demokratischen Deutschlands getan hat”, sagt die aus Ostdeutschland stammende Regierungschefin. Dann bezeugen sich beide, in den nächsten zwei Stunden viel besprechen zu wollen. Und schon wird die kleine Meute aus Kameraleuten und Journalisten aus dem Machtzentrum der US-Regierung gedrängt. Merkels erster Besuch als Kanzlerin in Washington, damals bei George W. Bush, liegt 15 Jahre zurück. Gestern hatte ihr Kurzaufenthalt Antritts- und Adieu-Charakter zugleich.

Merkel in Washington: Diskussionen über Nord Stream 2 und China

Merkel wirkte früh dem Eindruck entgegen, ihr 24-stündiger Aufenthalt mit kleinster Entourage im Schlepptau bestehe vorwiegend aus schönen Foto-Gelegenheiten, akademischen Ehrenweihen und viel Pathos. Das sicher auch. Aber zwischendurch galt es eine lange Themen-Liste abzuarbeiten. Und vielleicht noch Pflöcke einzuschlagen für ihren Nachfolger im Kanzleramt. Oder ihre Nachfolgerin.

Das trifft sich mit den Interessen des Gastgebers. Joe Biden ließ Merkels Erscheinen als Beginn einer „zukunftsorientierten” Zusammenarbeit etikettieren. Dahinter steht auch die Annahme, dass Merkel bis zur Bildung einer neuen Regierung die „Entscheiderin in Berlin” bleibt - „wir rechnen bis ungefähr November”. Das Magazin "Politico" begrüßte die Kanzlerin publizistisch jedenfalls als „unangefochtene politische Queen Europas”.

Ihre Visite soll aus Sicht der USA unterstreichen, wie gut und tragfähig die Atmosphäre zwischen den alten transatlantischen Freunden wieder ist, nachdem Donald Trump vom Wähler aus dem Bild gedrängt wurde. Und sie soll die besondere Wertschätzung ausdrücken für eine Frau, die es in ihrer sechszehnjährigen Kanzlerschaft bereits mit dem vierten US-Präsidenten zu tun hat.

Merkels Aufenthalt in Washington war mit den Insignien eines Staatsempfanges versehen, obwohl die zu Ehrende kein Staatsoberhaupt ist. Das bewies die Dramaturgie, die die 66-Jährige nach dem Morgen-Kaffee bei Kamala Harris ab 14 Uhr ins Weiße Haus führen soll.

Merkel in Washington von Kamala Harris empfangen
Merkel in Washington von Kamala Harris empfangen

Abendessen für 120 Minuten angesetzt

Vorher stellte Ronald J. Daniels, der Präsident der blendend angesehenen Johns-Hopkins-Universität, die Deutsche bei der Verleihung ihrer 18. Ehrendoktorwürde aufs ganze große Podest: „Als weltweit führende Persönlichkeit mit beispielloser Entschlossenheit und Integrität hat Bundeskanzlerin Angela Merkel nicht nur Deutschland geführt, sondern war während der Krisen von der großen Rezession bis zur Covid-19-Pandemie ein Leuchtturm für die Welt.”

Joe Biden sieht das ähnlich. Der Plan: Eine halbe Stunde allein mit dem amerikanischen Präsidenten. Danach nach fast zwei Stunden vertiefte Gespräche im erweiterten Kreis. Im Anschluss 45 Minuten gemeinsame Pressekonferenz. Und dann noch ein auf 120 Minuten angesetztes Abendessen, an dem auch First Lady Jill Biden, Außenminister Anthony Blinken, die ehemalige Außenministerin Hillary Clinton und Kanzlerin-Gatte Joachim Sauer teilnehmen. Summa summarum gute sechs Stunden nonstop mit dem US-Präsidenten in der Zentrale der Macht, bevor der Kanzler-Airbus gegen 21 Uhr wieder Richtung Berlin starten soll. Ein größeres Besteck hat Joe Biden in diesem Jahr noch für keinen ausländischen Gast auffahren lassen.

Klima- und Energiepartnerschaft geplant

Um das formale Ende der Zerrüttung im deutsch-amerikanischen Verhältnis während der Trump-Jahre zu dokumentieren, wollen Merkel und Biden die „Washingtoner Erklärung” unterzeichnen. Darin werden Ziele und Gemeinsamkeiten bekräftigt: Marktwirtschaft, Demokratie-Stärkung, regelbasierte Ordnung, Menschenrechte etc. In einem größeren Wirtschaftsforum und in einem deutsch-amerikanischen Rat für Wissenschaftsfragen und zivilgesellschaftliche Themen soll der direkte Dialog zwischen Berlin und Washington verstetigt und vertieft werden. Auch eine Klima- und Energiepartnerschaft, die sich unter anderem der Förderung erneuerbarer Energien in Schwellenländern verschreibt, ist ebenfalls geplant.

Aber auch Kontroversen sind programmiert. So wollte Merkel mit „Dringlichkeit” die Ungleichbehandlung der USA für Reisende aus dem Schengen-Raum ansprechen. Während Amerikaner trotz Corona schon seit Wochen wieder leichter in die Länder der Europäischen Union reisen können, ist der umgekehrte Weg wie schon unter Trump nach wie vor versperrt.

Vor allem die Wirtschaft ächzt. Deutsche Firmen sind der drittgrößte Arbeitgeber in den Staaten. Viele Unternehmen können Spezial-Personal nicht mehr pendeln lassen. Die Aufrechterhaltung der Produktion ist mancherorts gefährdet. Merkel glaubt, dass man auf Dauer keine guten Beziehungen unterhalten kann, wenn die Restriktionen bleiben.

Experten in ihrem Umfeld vermuten, dass Joe Biden aus innenpolitischen Gründen die Tür geschlossen hält und nicht, weil er etwas gegen Europa hat. Die Sorge könnte sein, dass im Lichte der Delta-Variante über Mexiko Infizierte ins Land kommen könnten und für ein Wiederaufflammen der Pandemie sorgen. Und dass die Republikaner Biden das vor den Zwischenwahlen im Kongress im nächsten Jahr ans Bein binden würden.

Kein Quell der ungetrübten Freude konnte auch die Debatte um die ewig umstritten Gas-Pipeline Nord Stream 2 aus Russland werden. Biden hatte sich den Zorn beider Parteien im Kongress zugezogen, als er überraschend im Frühsommer auf Sanktionen verzichtete. Sie hätten die Fertigstellung der von Merkel gegen vieler Widerstände verteidigten Energie-Leitung unterminiert. Wie das Entgegenkommen der Kanzlerin aussieht?

Umgang mit China das geopolitische Thema schlechthin

Geschmiedet wird seit Wochen an einem breit gefächerten Hilfspaket für die Ukraine, dass auch die Nordstream 2-Bedenken in Osteuropa ausräumen soll. Eine unterschriftsreife Abmachung, die unter anderem festschreibt, dass die Ukraine als Gas-Transitland erhalten bleibt und auch weit über Jahr 2024 hinaus auf Einnahmen in Milliardenhöhe zählen kann, ist für August angepeilt. Wichtig ist Merkel, dass man die Meinungsverschiedenheiten im „freundschaftlichen Austausch” diskutiert.

Dazu gilt auch für den Umgang mit China, d a s geopolitische Thema schlechthin in Washington. Merkels Devise scheint unverändert. Was Menschenrechtsfragen (Uiguren) anbelangt, sei man mit den USA d`accord, hieß es im Vorfeld. Wirtschaftlich gebe es jedoch zum Teil unterschiedliche Auffassungen.

Amerika und Europa/Deutschland stünden bei den Handelsbeziehungen mit China in einer Wettbewerbssituation. Keine Übereinkunft war auch bei der Freigabe der Patente auf Corona-Impfstoffe programmiert. Was Biden will, lehnt Merkel ab. Pharma-Unternehmen wäre sonst der Anreiz zur Innovation genommen, so ihr Standpunkt. Und während deutsche Stahl- und Aluminium-Firmen die Rücknahme der unter Trump verhängten Strafzölle fordern, macht Biden aus Rücksicht auf die heimischen „steel worker” im Moment keine Anstalten, das Rad zurückdrehen. Zu populär sind auch unter demokratischen Abgeordneten diese Jobs erhaltenden Maßnahmen.