Washington. Die Jury hat im Fall George Floyd ihr Urteil gefällt. Der Ex-Polizist Derek Chauvin ist schuldig gesprochen worden. Ein Wendepunkt?

Die Geschworenen haben gesprochen. Der Mann, unter dessen Knie George Floyd elendig starb, ist schuldig. Officer Derek Chauvin geht ins Gefängnis.

Aber Minneapolis und Amerika, wo die Anspannung vor dem Urteilspruch zuletzt kaum mehr zu ertragen war, sind noch nicht über den Berg. Vom Strafmaß wird abhängen, wie hoch die Wellen schlagen. Im schlimmsten Fall die Flammen.

Lesen Sie auch: Vor Floyd-Urteil: US-Polizist erschießt schwarzes Mädchen

Bliebe es bei einer kurzen Strafe, die nach den Schuldsprüchen in allen drei Anklagepunkten kaum vorstellbar ist, wäre nicht viel gewonnen im Kampf um die dringend notwendige Wiederherstellung von Vertrauen.

Das schwarze Amerika, seit Jahrzehnten konfrontiert mit systemischer Benachteiligung, würde sich bestätigt sehen: Cops, die ohne Not selbst gegen Unbewaffnete mit brutalster Gewalt vorgehen, werden am Ende mit Nachsicht behandelt.

Die hat Derek Chauvin nicht verdient.

Ein untenschuldbares Martyrium

Unser US-Korrespondent Dirk Hautkapp vor dem Weißen Haus in Washington.
Unser US-Korrespondent Dirk Hautkapp vor dem Weißen Haus in Washington. © Privat | Privat

Das Martyrium, in das er George Floyd zwang, ist unentschuldbar. Es bestand zu keiner Zeit die Notwendigkeit, einen Mann wegen eines Allerweltsdelikts wie ein Stück Vieh fast zehn Minuten am Boden zu fixieren, bis er stirbt.

Dass Chauvin es trotzdem tat, am helllichten Tag, vor den Handy-Kameras von Passanten, die um Nachsicht für den wehrlosen Afro-Amerikaner bettelten, war der seit langem drastischste Beweis für die kolossale Unwucht in Amerikas 18.000 Polizei-Direktionen.

Hier existiert seit der Sklavenzeit ein Gewaltproblem, von dem bis heute überproportional Schwarze und andere Minderheiten betroffen sind.

Den Rassismus und die Geringschätzung für das Leben anderer, der dem Fall Floyd innewohnt, kann man nicht von heute auf morgen aberziehen. Aber der Gesetzgeber kann die Hemmschwellen erhöhen ihn auszuleben. Das ist bisher nicht der Fall.

Das könnte Sie interessieren: Indianapolis – Acht Tote nach Schüssen in Paketzentrum

Was sich wirklich ändern muss

Die gesetzlich garantierte Immunität, die Cops selbst bei schlimmsten Vergehen fast grundsätzlich vor Strafverfolgung schützt, ist fast überall the „law of the land”. Erst wenn sie flächendeckend abgeschafft ist, werden sich Polizisten nicht mehr unangreifbar fühlen können.

Der Fall Chauvin hat hier bereits teilweise als Katalysator gewirkt. Einige Bundesstaaten und Städte haben ihren Gesetzeshütern Würgegriffe und Halsfixierungen untersagt. Aber das ist nicht genug.

Was diesen Prozess auszeichnete, war der Einsturz der „blue wall of silence”, der blauen Mauer des Schweigens. In der Regel gilt nicht nur in den USA, dass ein Cop einem anderen nicht in den Rücken fällt. Auch nicht bei schwersten Grenzüberschreitungen.

Im Zweifel gilt weiter: schießen, dann fragen

Bei Chauvin war es anders. Ein halbes Dutzend hoher und höchster Polizei-Funktionäre haben ihrem Ex-Kollegen, der bis heute keinerlei Reue zeigt, in seltener Eindeutigkeit Versagen und haarsträubende Verstöße gegen polizeiliche Vorschriften attestiert. Medaria Arradondo, der oberster Polizist Minneapolis`, sprach von Missachtung „unserer Ethik und Werte”.

Die Verweigerung der Solidarität mit Chauvin kann zweierlei bedeuten: Ausgrenzen eines „Schwarzen Schafes”, das die ganze Herde gefährdet - aber Beibehaltung einer Polizeiarbeit, die gegenüber Minderheiten und sozial Schwachen, nicht selten der inhumane Linie folgt: Im Zweifel erst schießen, dann Fragen stellen.

Diese Polizei hat keine Existenzberechtigung

Es kann aber auch der erste Stein sein, der ein Umdenken in Gang bringen kann. In vielen Städten Amerikas wird die Polizei von einem Großteil der Bevölkerung als existenzielle Bedrohung für Leib und Leben empfunden. Weil sie selbst bei geringsten Vergehen maximale Gewalt einsetzt. Weil sie dabei oft nach Hautfarbe geht.

Weil sie gerade im Kontakt mit psychisch Kranken viel zu oft überreagiert und keine Fähigkeiten zur Deeskalation demonstriert. Und weil sie bei Einsätzen mit Todesfolge selten angeklagt und noch seltener verurteilt wird. Eine solche Polizei, die das Gesetz vergewaltigt anstatt zu hüten, hat ihre Existenzberechtigung verwirkt.

Es ist Amerika zu wünschen, dass Derek Chauvin der Wendepunkt wird. Aber klar ist auch: George Floyd wird nicht der letzte Afro-Amerikaner sein, der durch absolut unverhältnismäßige Polizeigewalt ums Leben kommt.

Mehr zum Thema Rassismus: "Black Lives Matter" – Das steckt hinter der Bewegung