Berlin. Annalena Baerbock ist die Kanzlerkandidatin der Grünen. Ihre Chancen auf das Amt hängen auch vom Misserfolg einer anderen Partei ab.

Und es ist…eine Frau! Mit der Kanzlerkandidatin Annalena Baerbock sind sich die Grünen als feministische Partei treu geblieben. Das ist nicht wirklich überraschend. Überraschend war dagegen, wie diszipliniert die früher von Flügelkämpfen zerrissene Partei ihr Spitzenpersonal sortiert hat. Und wie eisern der Führungskreis bis zur letzten Minute dichthielt.

Da wegen des zähen Machtkampfs in der Union die Krönungsmessen von Union und Grünen fast zeitgleich ablaufen, wurde dem Wähler eindrucksvoll demonstriert: Fast 40 Jahre nach Einzug in den Bundestag sind die Grünen nicht nur endgültig im Establishment angekommen. Sie zeigen sogar einer alten Volkspartei, wie man die Top-Leute ins Rennen schickt.

Die Partei hat eindeutig gelernt, dass man nicht mit Provokationen und Wählerabschreckung, sondern mit freund­lichen Gesichtern und schmerzfreien Wahlprogrammen am erfolgreichsten fährt. Das zeigt, wie ernst es die Grünen mit dem Projekt „Rückkehr zur Macht“ meinen. Lesen Sie auch: Kanzlerkandidatin der Grünen: Das ist Annalena Baerbock

Annalena Baerbock muss Wohlfühlschleier der Grünen lichten

Dieser Vorteil ist allerdings gleichzeitig auch Nachteil der professionellen Inszenierung. Über dem Grünen-Projekt hängt ein Wohlfühlschleier, der den Blick auf den ungemütlichen Teil der grünen Agenda versperrt. Wer unter Trittin und Co. grün wählte, wusste ziemlich genau, was er politisch kriegt.

Bei den neuen Wohlfühl-Grünen bleibt vieles im Ungefähren. Im Programm fehlt nur noch das „Verbot von Liebeskummer“, maulte bereits das Grünen-Zentralorgan „taz“. Viele unüberbrückbare Gegensätze sind mit grüner Lyrik zugekleistert. Auch interessant: Annalena Baerbock: Fakten zur Kanzlerkandidatin der Grünen

Es wird jetzt Annalena Baerbocks Job sein, dem Wähler reinen Wein einzuschenken und genauer zu erklären, welche Grausamkeiten und Kosten u. a. mit einer radikalen Energiewende und dem Umbau von deutschen Schlüsselbranchen wie dem Automobilsektor verbunden sind.

Jörg Quoos, Chefredakteur Funke Zentralredaktion Berlin.
Jörg Quoos, Chefredakteur Funke Zentralredaktion Berlin. © Dirk Bruniecki

Fehlt Annalena Baerbock die Regierungserfahrung?

Man kann der 40-Jährigen aus der kleinen Stadt Pattensen dabei eine Menge zutrauen. Bei ihr hat nämlich nicht nur die Karte „Frau“ gestochen. Annalena Baerbock hat ihre Zeit politisch genutzt und mit ihrem Co-Parteivorsitzenden Robert Habeck eine echten Medienliebling aus dem Feld geworfen. Das gelang nur, weil Baerbock kampflustiger, besser auf den Punkt, klarer im Auftritt und tiefer in der Materie war. Das hat die politische Konkurrenz mit Respekt zur Kenntnis genommen und – bis auf die AfD – entsprechend fair und hämefrei gratuliert.

„Ja, aber der fehlt doch die Regierungserfahrung“, hört man jetzt in Berlin ganz oft, wenn auch meist von Männern und hinter vorgehaltener Hand. Ja, das stimmt. Aber es ist ein Scheinargument, das die ehemalige Leistungssportlerin weglächeln wird. In Bund und Land hat man von echten „Regierungsprofis“ gerade in diesen schwierigen Zeiten schon so viel schlechtes Handwerk erlebt, dass eine unvorbelastete Premiere als Ministerin längst nicht mehr zum Nachteil gereicht. Lesen Sie auch: Das ist der Mann, der Baerbock den Rücken freihält

Baerbocks Erfolg hängt auch von Misserfolg der Union ab

Zur Erinnerung: Der versemmelte Berliner Mietendeckel, die verkorkste Oster-Ruhe, die zähe Impfstoffbeschaffung – das alles war das Werk von Leuten, die nicht erst seit gestern regieren.

Ob Annalena Baerbocks Weg am Ende wirklich ins Berliner Kanzleramt führt, ist völlig offen. Das liegt nicht in der Macht der jungen Grünen-Chefin. Das hängt davon ab, ob die Union doch noch die Kurve kriegt, um im September mit deutlichem Vorsprung stärkste Kraft zu werden – oder ob sie sich durch einen Grabenkrieg langfristig schwächt. Lesen Sie hier: Superwahljahr 2021: Das sind die Termine im Überblick

Wenn Letzteres geschieht, ist eine grün-rot-rote Regierung oder die „Ampel“ mit SPD und FDP unter einer Bundeskanzlerin Annalena Baerbock durchaus realistischer geworden.