Brüssel/London. Das Nein des britischen Parlaments zu Theresa Mays Brexit-Deal kann schwere Folgen haben – auch für Deutschland und Europa insgesamt.

Historische Niederlage mit Ansage: Das britische Parlament hat den Brexit-Vertrag für den EU-Austritt Ende März abgelehnt. Am Dienstagabend stimmten im Unterhaus 432 Abgeordnete gegen das Abkommen, nur 202 dafür.

Jetzt wächst die Sorge, dass der EU-Austritt Großbritanniens am 29.März ungeregelt abläuft – und im Chaos endet. Alarmstimmung in London, Brüssel und Berlin. Was bedeutet das Votum für Politik und Wirtschaft in Großbritannien, Deutschland und der EU? Wie geht es jetzt weiter?

Ein Nein war erwartet worden, die derart breite Ablehnung auch in der regierungstragenden Tory-Fraktion nicht unbedingt.

Vergeblich hatte Premierministerin Theresa May zuvor in einem dramatischen Appell um Zustimmung geworben: „Eine Stimme gegen diesen Deal ist eine Stimme für nichts mehr als Unsicherheit, Spaltung und das sehr reale Risiko eines No-Deals“, warnte May. Es half nichts.

Brexit-Deal abgelehnt – das Wichtigste in Kürze:

  • Das britische Unterhaus hat den von Theresa May ausgehandelten Deal abgelehnt
  • 432 Abgeordnete waren dagegen
  • Die Opposition hat ein Misstrauensvotum gegen die Regierung beantragt

Grßbritanniens EU-Austritt ohne Deal – das könnten die Folgen sein

Großbritannien: Das Scheitern des Vertrags war erwartet worden, die hohe Niederlage ist für May aber verheerend – alle Tricks haben nicht geholfen, zehn Wochen vor dem Austrittstermin taumelt Großbritannien in eine schwere politische Krise.

May ist schwer angeschlagen, trotzdem muss sie versuchen, in den nächsten Wochen doch noch einen geregelten EU-Austritt zu organisieren. Die 62-Jährige hat bis Montag Zeit, dem Parlament ihre Pläne für das weitere Vorgehen vorzulegen.

Brexit-Abkommen abgelehnt – zweite Abstimmung wahrscheinlich

Premierministerin Theresa May hat die Abstimmung über ihren Brexit-Deal verloren.
Premierministerin Theresa May hat die Abstimmung über ihren Brexit-Deal verloren. © dpa | House Of Commons

Alles spricht dafür,

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So hat sie es seit Monaten geplant. Eine Mehrheit im Unterhaus ist erklärtermaßen gegen einen chaotischen Brexit ohne Vertrag – darauf kann die Premierministerin bauen. Die drohenden Folgen für Großbritannien, von Versorgungsengpässen und Chaos an den Grenzen bis zu einer schweren Rezession, sind allzu abschreckend.

Und May kalkuliert, dass es für ihre Gegner immer schwerer wird, Alternativen durchzusetzen, je näher der Austrittstermin rückt. Mays Unterhändler dürften sehr schnell nach Brüssel reisen, um zu versuchen, von der EU neue Zugeständnisse beim ausgehandelten Vertrag zu erzwingen. Ihr geht es vor allem um eine Lockerung der umstrittenen Notfalllösung für die Grenze zwischen der Republik Irland und dem britischen Nordirland.

Labour-Chef will Neuwahlen per Misstrauensvotum erzwingen

Aber das Parlament ist längst dabei, die Dinge selbst in die Hand zu nehmen. Mehrere Pläne kursieren: May könnte mit dem demütigenden und aussichtslosen Auftrag nach Brüssel geschickt werden, einen ganz neuen Austritts-Vertrag auszuhandeln. Andere Abgeordnete wollen sich für ein zweites Brexit-Referendum stark machen, das May bislang ablehnt.

Voraussetzung dafür wäre, dass der Austrittstermin verschoben wird – das wird in London ohnehin diskutiert. Labour-Chef Jeremy Corbyn hat im Vorfeld aber schon angekündigt, ein Misstrauensvotum einzubringen, um so Neuwahlen zu erzwingen.

Weil Mays konservative Tory-Fraktion kein Interesse an Neuwahlen hat, spricht viel dafür, dass May auch diese Klippe umschifft. Aber extrem schwierige Wochen stehen ihr bevor – und ganz Großbritannien, das durch das Brexit-Drama schon jetzt tief gespalten und verunsichert ist.

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Die Europäische Union: Bislang fühlten sich die EU und vor allem die Kommission in Brüssel als Sieger der Brexit-Verhandlungen. Mit einem harten Kurs hat die EU dem Vertrag ihren Stempel aufgedrückt – auch mit dem Ziel zu zeigen, dass sich ein Austritt aus der Union nicht lohnt. Aber das Blatt könnte sich jetzt wenden.

In London demonstrierten Gegner des Brexit während der Abstimmung über den Deal.
In London demonstrierten Gegner des Brexit während der Abstimmung über den Deal. © dpa | Frank Augstein

Zwar wiederholen die EU-Spitzen ihre Position, es werde keine Änderungen am Vertrag mehr geben. Aber der Druck auf die EU, den Briten jetzt doch entgegenzukommen, wird zunehmen. Außenminister Heiko Maas (SPD) sagte am Dienstag in Straßburg, es würden jetzt sicher noch einmal Gespräche geführt, wenn auch nicht über „gänzlich neue Lösungen“. Auch in Brüssel wird Gesprächsbereitschaft signalisiert.

Irland-Kompromiss mit zeitlich begrenztem „backstop“?

Offenbar haben die EU-Unterhändler einen Teil ihres Pulvers für einen Last-minute-Kompromiss trocken gehalten. Sogar ein weiterer Brexit-Sondergipfel der EU-Regierungschefs gilt als möglich. Dort würde wohl der irische Premierminister unter Druck gesetzt, einen Kompromiss zur irischen Grenze zu akzeptieren.

Der würde darauf hinauslaufen, dass die UK-EU-Zollunion als „backstop“-Notlösung zeitlich befristet wäre, wie es May fordert. Doch stehen Zugeständnisse unter einem Vorbehalt: Zur letzten Abstimmungsrunde im Unterhaus müsste eine Mehrheit für den Vertrag in Sicht sein. „Wenn May nicht vorher liefert“, heißt es in der Kommission, „gibt es keine Kompromisse“.

EU-Wahl im Mai macht Verlängerung problematisch

Um eine ordentliche Scheidung zu gewährleisten oder ein zweites Referendum zu ermöglichen, wäre die EU auch bereit, das Austrittsdatum um einige Monate zu verschieben, sollte London das beantragen. Allerdings gilt nur eine Verlängerung bis 1. Juli als unproblematisch.

Danach tritt das Ende Mai neu gewählte EU-Parlament zusammen. Wenn Großbritannien dann noch EU-Mitglied wäre, müssten die Briten vorher an der Europawahl teilnehmen.

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Deutschland: Kanzlerin Angela Merkel und ihrer Regierung stehen heikle Wochen bevor. Deutschland hat mehr als andere EU-Länder ein vitales Interesse daran, dass der britische EU-Austritt geregelt und halbwegs einvernehmlich verläuft – vor allem wegen der starken deutsch-britischen Handelsbeziehungen.

May weiß das. Sie setzt auf Merkels Unterstützung, hat zuletzt mit der Kanzlerin über das weitere Vorgehen telefonisch beraten. Britische Medien berichten, eine Hilfszusage Merkels habe May schon neue Hoffnung gegeben.

Die Bundesregierung relativiert das. Doch hat die Kanzlerin erst vor wenigen Tagen erklärt, „dass wir alles tun wollen, damit wir einen geregelten Austritt haben.“

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Merkel für Brexit-Krise mitverantwortlich gemacht

Merkel begegnet damit auch einer Stimmung, die sich in Großbritannien unter konservativen Politikern breitmacht: Sie geben der deutschen Kanzlerin eine Mitschuld an der aktuellen Brexit-Krise.

Erst habe Merkel auf Unnachgiebigkeit der EU gegenüber dem damaligen Premier David Cameron bestanden und damit seine Niederlage beim Brexit-Referendum befördert. Dann habe Merkel maßgeblich für die harte Linie der EU in den Brexit-Verhandlungen gesorgt. Für die deutsch-britischen Beziehungen verheißen solche Vorwürfe nichts Gutes.

Die Wirtschaft: Es könnte kaum schlimmer kommen für die Wirtschaft auf der Insel und auf dem Kontinent. Die anhaltende Unsicherheit über die Umstände des britischen EU-Austritts ist Gift für die Unternehmen.

In Großbritannien warnen Wirtschaftsverbände schon vor einer Rezession. Aber auch in Deutschland, wo 750.000 Arbeitsplätze vom Handel mit der Insel abhängen, nimmt die Sorge zu: Würden die Briten die Union Ende März ohne Vertrag verlassen, entstehe eine völlig unberechenbare Situation mit enorm hohen Kosten und Schäden,

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Lieferketten würden unterbrochen, deutsche Unternehmen müssten nach Berechnungen des Industrie- und Handelskammertags (DIHK) drei Milliarden Euro jährlich allein für den Zoll zahlen. Doch auch bei einem geregelten Brexit würden „sowieso alle verlieren“, erklärt der BDI.

Die Unternehmen wollten jetzt vor allem rasch Klarheit, sagt BDI-Hauptgeschäftsführer Joachim Lang: Eine Verschiebung des Austrittstermins würde nur den Unsicherheitszeitraum verlängern.