Chemnitz. Drei Monate sind seit der tödlichen Attacke auf einen Deutschen in Chemnitz vergangen. Nun kam Merkel dorthin. Sie fand klare Worte.

Sie hat lange für die Reise gebraucht, die Stadt hat lange warten müssen. Nun ist Angela Merkel in Chemnitz. Kein leichter Termin für die Kanzlerin. Knapp drei Monate nach den fremdenfeindlichen Ausschreitungen ist sie zu Besuch in Sachsen.

In dem Bundesland machte die ostdeutsche Kanzlerin in den vergangenen Jahren schwierige Erfahrungen. „Schlampe“, „Volksverräterin“ und „Merkel muss weg“ skandierten die Menschen 2015 in Heidenau.

82 Tage sind seit der mutmaßlich durch Asylbewerber verübten tödlichen Messerattacke auf einen Deutsch-Kubaner vergangen. Topfblumen erinnern in der Innenstadt von Chemnitz an ihn, auf einem Schild steht: „Möge Dein Tod etwas bewirken.“

Zwölf Wochen – die die Stadt gespalten haben

Stellt sich den Fragen aus dem Volk: Angela Merkel.
Stellt sich den Fragen aus dem Volk: Angela Merkel. © Getty Images | Pool

Es sind zwölf Wochen, die die Stadt umgekrempelt und gespalten haben. Rechte Kräfte haben den Tod des 35-Jährigen für sich vereinnahmt und sind mit ihrer Hetze gegen Ausländer teilweise auf offene Ohren gestoßen.

Seither gab es fremdenfeindliche Übergriffe, Anschläge auf jüdische, persische und türkische Restaurants, eine rechte Terrorgruppe wurde aufgedeckt. Zuletzt hatten Unbekannte in der Nacht vor dem 80. Jahrestag der Pogromnacht Stolpersteine beschädigt, die an Opfer der Nazizeit erinnern.

Freitags zieht „Pro Chemnitz“ durch die Stadt

Die Bewegung „Pro Chemnitz“ um den einstigen sächsischen Republikaner-Anführer Martin Kohlmann hat einen Kern von etwa 1000 Anhängern um sich geschart, die allwöchentlich am Freitag um die Häuser ziehen. Dabei skandieren sie Parolen wie „Das System ist am Ende, wir sind die Wende“, „Wir sind das Volk“ oder „Merkel muss weg!“

Demonstranten während des Besuchs von Angela Merkel in Chemnitz.
Demonstranten während des Besuchs von Angela Merkel in Chemnitz. © REUTERS | AXEL SCHMIDT

An diesem Freitag verlegen sie ihre Demon­stration vor die Halle, in der Merkel beim Leserforum der „Freien Presse“ mit Bürgern diskutierte. Rund 1000 Polizisten sind im Einsatz, Unterstützung aus anderen Bundesländern reiste an.

Merkel wirbt um die Menschen und gesteht Fehler ein

Der Besuch der Kanzlerin beginnt friedlich, bei den Nachwuchsteams des Basketball-Zweitligisten „Niners Chemnitz“. Trainer des Teams, so heißt es in Chemnitz, fuhren in den Tagen im August ausländisch aussehende Spielerinnen zur Sicherheit in Autos zu Terminen – aus Angst vor Übergriffen.

Dann trifft Merkel die Chemnitzer SPD-Oberbürgermeisterin Barbara Ludwig und Sachsens Ministerpräsident Michael Kretschmer zum persönlichen Gespräch. Ludwig findet den Termin des Besuchs zu spät, kritisierte Merkel zuvor öffentlich. Familienministerin Franziska Giffey (SPD) war schon kurz nach den Ausschreitungen nach Chemnitz gereist.

Ein Gesicht, „das auf viele Menschen polarisierend wirkt“

Merkel greift die Vorwürfe auf: Sie habe nach den Ereignissen im August schnell mit der Oberbürgermeisterin telefoniert, aber es sei nicht der beste Zeitpunkt für einen Besuch gewesen. Sie wisse spätestens seit der Bundestagswahl, „dass ich ein Gesicht habe, das auf viele Menschen polarisierend wirkt“. Sie habe die Situation damals nicht zusätzlich aufheizen wollen.

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    „Jetzt kann man heute natürlich auch sagen, dass dieser Besuch auch wieder aufwiegelt“, sagt die 63-Jährige. Aber sie wolle wissen, was in der Stadt geschieht: „Ich will nicht, dass Chemnitz dauerhaft in ein völlig falsches Licht rückt.“ Sie stelle sich gern der Kritik der Bürger der Stadt, aber „in einer Atmosphäre, in der man sprechen kann“.

    Verständnis fürs Volk - man müsse besser werden

    Merkel will reden: „Es ist ein schrecklicher Mord passiert, das ist etwas, was die Menschen aufgewühlt hat.“ Doch für die rechtsradikalen Demonstrationen habe es keine Rechtfertigung gegeben. Merkel wirbt um die Menschen, gesteht Fehler im Umgang mit Abschiebungen ein, weist auch auf eigene Fehler hin.

    „Warum sind Intensiv-Straftäter noch hier?“, fragt ein junger Mann. „Wie kann es sein, dass die hier ungestraft herumlaufen?“ Man müsse da besser werden, sagt sie, sie verstehe das.

    Es bedrücke sie, sagt eine Ärztin, dass sich so viele Menschen in Sachsen als Bürger zweiter Klasse fühlten. Merkel gibt eine nachdenkliche Antwort. Es sei schwierig, dass sich viele nicht wertgeschätzt fühlten. Sie nimmt die ostdeutsche Perspektive ein: „Wir haben so viel geschafft, hingekriegt, hinbekommen und eingebracht in dieses Land.“ Und: „Sie haben doch allen Grund, stolz zu sein“, sagt sie an die Sachsen gewandt.

    Bürgergespräche kamen möglicherweise zu kurz

    Es geht weiter: Die Transparenz der Politik fehle, bemängelt ein Chemnitzer Geschäftsmann. „Vielleicht ist das Bürgergespräch zu kurz gekommen“, räumt Merkel ein. Auch ihre Familie kritisiere sie gelegentlich. Dann versuche sie, die Dinge zu erläutern – und ernte manchmal dafür auch Verständnis.

    „Wie haben Sie die Zerfetzung von Chemnitz in den Medien gefunden?“, fragt ein älterer Mann. Überhaupt scheint es, als sei für viele hier nicht Merkel das große Problem, sondern die Journalisten. Merkel sagt, als Kanzlerin sei sie mit der Kritik an der Presse vorsichtig. Im Saal gibt es Lacher. Dann wird sie ernst: „Die Pressefreiheit ist ein hohes Gut.“

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      Sie verstehe, dass es frustrierend sei, wenn die Berichterstattung von Negativem bestimmt werde. Das könne sie im Fall Chemnitz nachvollziehen, aber die Ereignisse seien auch schrecklich gewesen. „Sie dürfen am Ende doch nicht sagen, es ist der Journalist, der Chemnitz schlechtmacht.“

      „Heil Merkel“-Fahnen und Gebrüll

      Viel Besuch – die Gäste mussten sich Sicherheitskontrollen unterziehen.
      Viel Besuch – die Gäste mussten sich Sicherheitskontrollen unterziehen. © Getty Images | Pool

      Drinnen läuft die Diskussion harmonisch und leise, draußen wird gebrüllt. Was Merkel zu den Demonstranten draußen denn sage, wird sie drinnen gefragt. „Wenn jemand sich einfach hinstellt und losschreit, dann bleibt fürs Reden keine Zeit mehr.“ Draußen schwingen sie „Heil Merkel“-Fahnen und brüllen „Nieder mit dem System“.

      Fragt man die Menschen vor dem Besuch, trifft man auf Gleichgültigkeit oder Ablehnung. „Ist mir egal“, „Was will die Tante hier?“, „Sie hätte mal eher kommen müssen.“ Namentlich möchte niemand genannt werden. Man wisse ja nicht, wo das alles landet. Eine Szene vom Nachmittag: Christina schimpft.

      Merkel mal „die Meinung sagen“

      Sie will ihren Namen nicht in der Zeitung lesen, obwohl sie sich als Leserin bei der „Freien Presse“ beworben hat. Gerade musste sie bei den massiven Sicherheitskontrollen für die teilnehmenden Bürger ihr Haarspray in die Mülltonne werfen. „Schlimmer als am Flughafen hier.“

      Merkel die Meinung sagen, das will sie. „Die Medien haben alles aufgebauscht“. Das Stadtfest sei friedlich und schön gewesen, bevor die Ausländer gekommen seien. Als ihr ein Journalist eines privaten Senders aus Chemnitz sagt, er habe im August Todesangst gespürt, weil viele Leute auf ihn und sein Kamerateam losstürmten, da lächelt sie nachdenklich. Da wisse sie jetzt auch keine Lösung.

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      Ein Student sagt, er hoffe, dass die Kanzlerin Anregungen nach Berlin mitnehme, dass sich die Dinge in der Stadt langfristig ändern. „Das Bild, das von der Stadt gezeichnet wird, ist teilweise schon schief. Man kann hier gut leben. Aber es gibt verfestigte neonazistische Strukturen. Die müssen härter angegangen werden.“

      Es kam zu mehreren Krisentreffen im Kanzleramt

      Die Ereignisse in Chemnitz führten auch für die Regierungschefin zu einem Streit, der mit Begriffsdefinitionen begann und mit einer Regierungskrise endete. Denn es ging nicht um Wörter, sondern um die Beschreibung dessen, was sich auf Chemnitz’ Straßen abgespielt hatte.

      Regierungssprecher Steffen Seibert hatte nach den Ausschreitungen gesagt: „Solche Zusammenrottungen, Hetzjagden auf Menschen anderen Aussehens, anderer Herkunft, oder der Versuch, Hass auf den Straßen zu verbreiten, das nehmen wir nicht hin, das hat in unseren Städten keinen Platz.“

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      Der damalige Verfassungsschutzpräsident Hans-Georg Maaßen widersprach Seibert öffentlich und stellte sich damit als Beamter gegen die Kanzlerin. Er bezweifle, dass es zu Hetzjagden auf Ausländer gekommen sei, sagte Maaßen und schloss „gezielte Falschinformation“ nicht aus.

      Es kam zu mehreren Krisentreffen im Kanzleramt.

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      Doch die Politik hatte kein gutes Bild abgegeben. Das Krisenmanagement war der Kanzlerin entglitten.

      Fraglich, ob Merkel die Menschen vor der Tür erreichen kann

      Sie war davon tief betroffen, ebenso von dem Hass, den zahlreiche Menschen auf die Straße trugen. Und dass Rechtsextreme ungenierter als früher ihre Gesinnung öffentlich zeigen. Sie mahnte, in den nächsten Jahren werde sich entscheiden, ob Deutschland und Europa aus der Vergangenheit gelernt hätten.

      Die Bürger in der Diskussion hat Merkel am Freitag erreicht, auch die, die sie wegen ihrer Flüchtlingspolitik harsch angehen („Frau Merkel, wann treten sie zurück?“). Die auf der Straße nicht. Fraglich, ob das überhaupt jemand schafft.

      Migrationsbeirat: Lage in Chemnitz weiter angespannt

      Hans-Joachim Wunderlich, Hauptgeschäftsführer der Industrie- und Handelskammer fand es gut, dass Merkel noch kam: „Für einen Besuch in Chemnitz ist es nie zu spät.“ Wohl auch mit Hilfe der Visite der Kanzlerin wünschte er sich, dass über Chemnitz wieder positiv berichtet wird.

      Der Vorsitzende des Migrationsbeirates der Stadt, Pedro Montero, sagte dem Redaktionsnetzwerk Deutschland, die Lage in der Stadt habe sich zwar „insgesamt beruhigt“, sei aber „weiter angespannt“, vor allem weil durch die wöchentlichen Demonstrationen „Pro Chemnitz“ keine Ruhe einkehre.

      Die Gruppe hat auch für diesen Freitag erneut zu Protesten aufgerufen. Die Polizei hat sich nach eigenen Angaben mit einem Großaufgebot gerüstet. Allein im August und September nahmen bei sieben Kundgebungen von „Pro Chemnitz“ 19.700 Menschen teil.

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      Der Saal wurde von der Polizei geräumt. Eine Stunde später konnte die Band ihren Auftritt fortsetzen.