Heuchelheim/Berlin. Der Wahlkampfendspurt in Hessen lässt die Spitzen von CDU und SPD immer nervöser werden. Kann die GroKo an der Landtagswahl zerbrechen?

Die SPD-Prominenz ist noch gar nicht in Sicht, da wartet Thomas Huber schon ungeduldig am Eingang des Rustico auf die Gäste. Das Vereinslokal der Turn- und Sportfreunde aus Heuchelheim bei Gießen, in dem der hessische SPD-Spitzenkandidat Thorsten Schäfer-Gümbel und Parteichefin Andrea Nahles an diesem Abend im Endspurt der Hessenwahl unschlüssige Wähler überzeugen wollen, ist eine Institution. Einst kickte Erfolgsregisseur Til Schweiger nebenan in der B-Jugend.

Wirt Huber selbst hat es im Wahlkampf zu einer gewissen Berühmtheit gebracht. Als die AfD inkognito bei ihm einen Saal buchen wollte, spielte er nicht mit. Das brachte Huber im Netz einen Shitstorm und im echten Leben den Respekt seiner Stammkundschaft ein. „Die AfD und die Linken kommen mir nicht ins Haus“, erzählt der leutselige, gut gebräunte Gastronom. Und wem vertraut er? „Ich glaube, mit der zweiten Stimme werde ich den Bouffier wählen. Hessen geht es doch gut.“

Das wird die angezählte Kanzlerin freuen. Angela Merkel war zuletzt vier Mal in Hessen. Selten hatte eine Landtagswahl das Zeug, eine Bundesregierung in existentielle Not zu bringen. Das letzte Mal war das 2005, der Machtverlust der SPD in Nordrhein-Westfalen läutete das Ende von Rot-Grün im Bund ein. Gerhard Schröder setzte alles auf die Karte Neuwahl, die er knapp verlor. Angela Merkel wurde Kanzlerin. Nun, 13 Jahre später, ist Hessen womöglich für sie eine Schicksalswahl. Aber das wurde vor Bayern auch gesagt. Trotz riesiger CSU-Verluste passierte nichts. Horst Seehofer allerdings könnte vor Weihnachten als CSU-Chef Geschichte sein.

Das miese GroKo-Image ist für CDU und SPD eine Bleiweste

Bouffier, der Merkels Flüchtlingspolitik treu mittrug und die AfD in Hessen in Zaum hielt, muss es reißen. Merkel und Bouffier sehen sich fast häufiger als ihre Ehepartner. Sie touren durch große Hallen wie am Donnerstag in Fulda oder klingeln bei treuen Wahlkämpfern durch. Dabei entstand ein Foto, das die CDU im Internet verbreitet: Ein Büro im Konrad-Adenauer-Haus, das wie eine „Tatort“-Kulisse aus den 90er-Jahren aussieht. Merkel und Bouffier, wie TV-Kommissare vor weißen Telefonknochen sitzend, hängen an der Strippe, um Parteisoldaten Mut zu machen. Wahlkampf alter Schule, um die Katastrophe abzuwenden.

Volker Bouffier und Angela Merkel am Dienstag in Dieburg.
Volker Bouffier und Angela Merkel am Dienstag in Dieburg. © REUTERS | RALPH ORLOWSKI

Bouffier könnte mehr als zehn Prozentpunkte gegenüber 2013 verlieren, aber mit einem Jamaika-Bündnis im Amt bleiben. Der Gegenwind durch die miese GroKo-Performance (Maaßen-Affäre, Diesel-Fahrverbote) wird wie in Bayern auch in Hessen durchschlagen. Verliert Bouffier, der mal Deutschlands jüngster Scheidungsanwalt war, nach 19 Jahren CDU-Dominanz die Macht in Wiesbaden, dürfte das schmerzhafte Trennungsprozesse auslösen. Zerbröselt nach der roten nun die schwarze Volkspartei in Rekordzeit – und mit ihr Merkels Kanzlerschaft?

In einem Radiointerview machte sie sich keine Illusionen: „Alle Versuche, dass diejenigen, die heute oder in der Vergangenheit tätig waren, ihre Nachfolge bestimmen wollen, sind immer total schiefgegangen. Und das ist auch richtig so“, sagte Merkel. Sie ahnt: Fällt Bouffier, könnte es das beim CDU-Parteitag im Dezember in Hamburg auch für sie gewesen sein, als Vorsitzende und als Kanzlerin.

Generalsekretärin Annegret Kramp-Karrenbauer unkte bei einem Auftritt in Frankfurt, sollte die Regierung auseinanderbrechen, „wird es auf Neuwahlen herauslaufen“. Niemand könne zu 100 Prozent voraussagen, „wie stabil das bleibt, was sich vor allem an Dynamiken in den einzelnen Parteien entwickelt“. Beste Chancen auf eine Kanzlerkandidatur in der Nach-Merkel-Ära hätte Kramp-Karrenbauer selbst.

Hessen-Wahl: Volker Bouffier (CDU) stemmt sich gegen den Bundestrend

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    Schäfer-Gümbel erhielt schon mal Gratulation zum Wahlsieg

    Thorsten Schäfer-Gümbel (SPD) würde die Staatskanzlei schon reichen. Der Auftritt in der Heuchelheimer Turnhalle ist für ihn ein Heimspiel. Der FC-Bayern-Fan wohnt um die Ecke, hat in Gießen studiert, lernte an der Uni seine Frau kennen, die er einem anderen ausspannte („Der Thorsten hat das sehr geschickt gemacht“), sie haben drei Kinder. Für Annette trat „TSG“ wieder in die Kirche ein, sie dafür in die SPD.

    Nun will er es im dritten Anlauf schaffen, Ministerpräsident zu werden. Die Neuwahl 2009 zählte nicht wirklich. Da war er ein Nobody, der die Suppe (die SPD fiel von 37 auf 24 Prozent) auslöffeln musste, die Vorgängerin Andrea Ypsilanti im Jahr zuvor der Partei eingebrockt hatte. Ypsilanti brach ihr Wort, wollte sich von der Linken dulden lassen. Ypsilantis Karriere läuft jetzt leise aus. Sie wird dem neuen Landtag nicht mehr angehören.

    2013 gratulierten Wahlforscher Schäfer-Gümbel per SMS schon zum Sieg. Rot-Grün wurde aber noch abgefangen, weil FDP und Linke es über fünf Prozent schafften. Dieses Mal lag die SPD lange bei bis zu 25 Prozent in den Umfragen, die CDU schien in Schlagdistanz. Der Absturz auf 9,7 Prozent in Bayern, der Erfolgsrausch der Grünen haben die Karten neu gemischt. Wird es wieder nichts mit der Staatskanzlei? „Ich trete nicht auf Platz an“, ruft der SPD-Mann trotzig den fast 400 Leuten im Saal zu. „Ich will als Ministerpräsident eine Regierung führen.“ Viele Hessen seien unentschlossen: „Es wird superknapp.“

    Nahles poltert gegen Seehofer und die CSU

    Andrea Nahles und Thorsten Schäfer-Gümbel am Mittwoch in Heuchelheim.
    Andrea Nahles und Thorsten Schäfer-Gümbel am Mittwoch in Heuchelheim. © REUTERS | KAI PFAFFENBACH

    Nahles, die in Heuchelheim mit einem Mikro in der Hand über den frisch gewienerten Parkettboden tigert, lobt überschwänglich, wie TSG sich gegen den GroKo-Gegenwind aus Berlin stemme. Von seinem Abschneiden hängt maßgeblich ab, wie ungemütlich die Woche nach Hessen für die SPD-Vorsitzende wird. Nahles, die freundlichen, aber mäßigen Applaus erhält, poltert gegen Seehofer und die CSU, verteidigt die Pläne ihrer Partei, die mit der Union vereinbarte Rentengarantie bis 2025 auf das Jahr 2040 auszudehnen. „Das ist finanzierbar, wir sind ein reiches Land! Wer das Gegenteil behauptet, erzählt Blödsinn.“ Kurz fällt das Mikro aus. Sie macht „Hö“, der Saft ist wieder da. Das gilt aber nicht für die älteste deutsche Partei.

    Viele Sozialdemokraten sind nach Bayern von Selbstzweifeln und -mitleid geplagt. Ein Putsch gegen Nahles scheint wenig wahrscheinlich, da niemand sich den Vorsitz antun will. Aber die Dramaqueen SPD neigt zu irrationalen Ausbrüchen. Am 4. und 5. November tagt – wie bei der CDU – der Vorstand. Durchtrennen die GroKo-Gegner den zuletzt viel zitierten Geduldsfaden? Aber die Koalition beenden, nur weil es bei Landtagswahlen mies gelaufen ist? Das wäre Harakiri.

    Nahles will die Koalition fortsetzen, Politik für Malocher, Alleinerziehende und Familien machen, in der Hoffnung, dass es sich irgendwann doch auszahlt.

    Umfragen sagen Kopf-an-Kopf-Rennen um Platz zwei voraus

    In Hessen scheint noch alles drin zu sein: In einer „Spiegel Online“-Befragung liegt die SPD mit 22 Prozent vor den Grünen (18,5 Prozent), doch mehrere Umfragen sagen ein Kopf-an-Kopf-Rennen um Platz zwei voraus. Machen SPD, Grüne und Linke gemeinsame Sache, um Bouffier zu stürzen? Oder lässt sich die FDP in eine Ampel locken?

    Tarek Al-Wazir am Montag in Offenbach.
    Tarek Al-Wazir am Montag in Offenbach. © Getty Images | Thomas Lohnes

    1987 wollte SPD-Regierungschef Holger Börner aufmüpfige Grüne so kleinkriegen: „Früher auf dem Bau hätten wir das mit der Dachlatte gelöst“, zeterte der Ex-Maurer. Er formte dennoch die erste rot-grüne Landesregierung. Läuft es perfekt für die Ökopartei, knallt bei Tarek Al-Wazir am Sonntag nicht die Dachlatte, sondern der Sektkorken. Der aktuelle Vize-Ministerpräsident könnte neben Winfried Kretschmann in Stuttgart zum zweiten grünen Regierungschef aufsteigen.

    Für Schäfer-Gümbel, den ewigen Herausforderer, wäre es ein Drama. Vor 1740 Tagen stellte er sich auf dem Handy einen Timer ein. Am 28. Oktober soll es klingeln, Schwarz-Grün soll Geschichte sein. In Heuchelheim klagt er über die in Berlin ausgelöste Vertrauenskrise, die das Land verrückt mache. „Das hat ganz viel damit zu tun, dass auf allen Ebenen zu viel gelabert und zu wenig gemacht wird.“