Berlin. Viele Unternehmen bieten pflegenden Mitarbeitern laut einer Umfrage keine Hilfe an. Der Pflegebevollmächtigte fordert einen Lohnersatz.

Die Müdigkeit ist eigentlich immer da. Mal ist Nora Traut* am Morgen wie gerädert, manchmal nur müde. Früher, erzählt die 57-Jährige, seien drei von sieben Nächten schlecht gewesen. Heute sei es nahezu jede Nacht. Traut pflegt seit 13 Jahren ihren Mann, seit er mit 51 Jahren auf der Arbeit einen Herzinfarkt erlitt und bleibende Schäden davongetragen hat. Nora Traut geht aber auch arbeiten. Früher waren es noch 38 Stunden in der Woche, heute sind es 30. Damit ist sie eine von geschätzt 2,6 Millionen Erwerbstätigen in Deutschland, die einen Angehörigen pflegen – Tendenz steigend.

Doch die Betriebe sind auf eine steigende Zahl

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nicht eingestellt, wie eine aktuelle Forsa-Umfrage im Auftrag des Zentrums für Qualität in der Pflege (ZQP) zeigt, die unserer Redaktion vorliegt. So gibt es in 58 Prozent der untersuchten Unternehmen keine betriebsinternen Angebote zur besseren Vereinbarkeit von Beruf und Pflege und: Entsprechende Angebote sind auch künftig nicht geplant. Zu aufwendig sei das und andere Fragen drängender, sagen 43 Prozent der Unternehmen. 34 Prozent sagen, solche Maßnahmen seien zu teuer.

„Als Gesellschaft sind wir auf Familienarbeit angewiesen“

Dabei ist die Entwicklung keine überraschende. Die medizinische Versorgung wird besser, die Gesellschaft älter. Schon heute gibt es in Deutschland 3,1 Millionen Pflegebedürftige, davon 1,7 Millionen Demenzkranke. Allein deren Zahl steigt jedes Jahr um 40.000, im Jahr 2050 werden in Deutschland nach Schätzungen drei Millionen dementiell erkrankte Menschen leben.

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Die Jenaer Soziologin Tine Haubner sprach auf einer Fachtagung vor einigen Tagen vom größten und kostengünstigsten Pflegedienst der Nation. „Als Gesellschaft sind wir dringend auf die Familienarbeit der pflegenden Angehörigen angewiesen, die für diese häufig sehr belastend ist“, sagte ZQP-Vorsitzender Dr. Ralf Suhr. „Gleichzeitig können wir nicht auf ihre Arbeitskraft in der Wirtschaft verzichten.“ Deswegen seien auch die Unternehmen in der Verantwortung, ihre Mitarbeiter bei der Bewältigung der Pflege zu unterstützen.

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    Jedes Mal einen Tag Urlaub oder Krankschreibung

    Nora Traut bekam zunächst Unterstützung. Zwei Tage mehr Urlaub gewährte man ihr. Die Kollegen hatten Verständnis, wenn sie mal nicht da sein konnte. „Die Arbeit war noch ganz lange meine Freiheit, mein normales Leben, mein sozialer Kontakt“, sagt sie. Denn zu pflegen bedeutet auch, dass nichts mehr ist, wie es war. Doch das Klima hat sich verändert.

    „Die Kollegen haben sich an meine Situation gewöhnt und haben es nicht mehr präsent, dass ich neben der Arbeit meinen Mann pflege.“ Geht es ihm schlecht, bedeutet das – anders als bei Eltern mit einem kranken Kind – jedes Mal einen Tag Urlaub oder Krankschreibung. „Ich würde mir wünschen, dass pflegende Angehörige mit Eltern gleichgestellt werden“, sagt Traut.

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    Das sieht auch der Pflegebeauftragte der Bundesregierung so. „Es muss selbstverständlicher Bestandteil guter Personalführung werden, einem pflegenden Mitarbeiter flexible Arbeitszeitmodelle anzubieten oder Auszeiten für Reha-Maßnahmen und zur Regeneration zu gewähren“, sagte Andreas Westerfellhaus unserer Redaktion. Pflegende Angehörige brauchten Verständnis und die Unterstützung ihres Arbeitgebers, um nicht innerhalb kürzester Zeit auszubrennen.

    Arbeitszeitkonten ermöglichen Flexibilität

    Die Bundesvereinigung der Deutschen Arbeitgeberverbände (BDA) sieht die Unternehmen dagegen gut für die große Zahl Pflegender im Beruf aufgestellt. „Es existieren bereits heute zahlreiche betriebliche Regelungen, um die Vereinbarkeit von Pflege und Beruf zu fördern“, sagte BDA-Hauptgeschäftsführer Steffen Kampeter dieser Redaktion. So würden heute mehr als ein Drittel der Unternehmen Arbeitszeitkonten anbieten, die

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    ermöglichten. Jedoch erschwere das starre Arbeitszeitgesetz die Vereinbarkeit von Familie und Beruf.

    Flexible Arbeitszeiten, Homeoffice – diese Angebote hat man Nora Traut nicht gemacht. Der Gesetzgeber hat 2015 einen Rechtsanspruch auf Familienpflegezeit für pflegende Beschäftigte eingeführt. Bei einer verbleibenden Wochenarbeitszeit von 15 Stunden können sie bis zu 24 Monate Auszeit vom Job nehmen. Doch dann kommt die Sorge um das Geld. Zwar können Beschäftigte, die sich nach dem Pflegezeitgesetz freistellen lassen, ein zinsloses Darlehen in Anspruch nehmen. Doch das muss am Ende zurückgezahlt werden. „Wenn mein Mann demnächst stirbt, verändert sich meine finanzielle Situation. Ich weiß nicht, ob ich das leisten könnte“, sagt Nora Traut. Sie hat sich gegen eine Pflegezeit entschieden.

    Eine Unterbringung über Nacht würde schon helfen

    Das Darlehen werde so gut wie nie in Anspruch genommen, sagt Westerfellhaus. „Vielleicht sollte man deshalb über eine Weiterentwicklung finanzieller Leistungen für pflegende Angehörige nachdenken. Ich finde etwa die Idee einer echten Lohnersatzleistung analog dem Elterngeld sehr spannend.“

    Der Mann von Nora Traut verbringt die Tage in einer Tagespflegeeinrichtung. Morgens, abends, nachts ist sie für ihn da. „Es zerreißt einem das Herz. Niemand würde seinen Liebsten einfach in ein Heim geben“, sagt sie. Und doch kommt ihr der Gedanke immer häufiger. „Ich habe lange versucht, einen Status aufrecht zu erhalten“, sagt Traut. Pflege, Haushalt, Arbeit. „Irgendwann geht es nicht mehr.“

    Was aber schon helfen würde, sei ab und zu eine Unterbringung über Nacht. Das erzählten auch die Frauen aus der Selbsthilfegruppe des Vereins „Wir pflegen“, in dem sich Traut engagiert: Wenn sie wenigstens schlafen könnten, bevor sie sich am nächsten Tag wieder Pflege und Arbeit stellen. Doch Angebote für eine Nachtpflege gebe es kaum. Für Ende Oktober hat sie Theaterkarten. „Anatevka“ wird in der Komischen Oper Berlin gespielt. Wenn sie einen Ort findet, wo sie ihren Mann an diesem Abend unterbringen kann, wird sie gehen. Wenn nicht, bleibt sie zu Hause – wie meistens.*Name geändert