Moskau. Die Fußball-WM geht endlich los. Viele Russen freuen sich auf das Fußballfest – andere auf die seltene Möglichkeit, gehört zu werden.

An diesem Donnerstag (14. Juni) ist es endlich so weit. Erst wird Superstar Robbie Williams gemeinsam mit der russischen Sopranistin Aida Garifullina auftreten, dann dürfte Fifa-Präsident Gianni Infantino die „beste Weltmeisterschaft aller Zeiten“ feierlich eröffnen (

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). Natürlich wird auch Russlands Staatspräsident Wladimir Putin im ausverkauften Luschniki-Stadion in Moskau dabei sein, ein paar nette Worte zum Besten geben und artig beklatscht werden. Und ganz zum Schluss wird dann aller Voraussicht nach auch noch der Ball rollen. Etwas für Feinschmecker: Russland gegen Saudi-Arabien. Und Konstantin? Wird vermutlich schlafen.

Es ist weit nach Mitternacht, als Konstantin im Musikclub „Cultura“ ans Keyboard darf. Gerade knapp neun Kilometer ist der Elektro-Schuppen vom Luschniki entfernt – doch besonders an diesem Abend scheinen der rappelvolle Musiktempel in einem Hinterhof am Pokrowsky Bulvar und die für die WM renovierte und nun größte Fußball-Kathedrale Welten zu trennen.

Russland ist das flächengrößte Land der Welt

„Fußball interessiert mich eigentlich nicht“, sagt DJ Konstantin in einer kurzen Pause. Auf die Weltmeisterschaft freut sich der 34 Jahre alte Russe aber trotzdem: „Ich finde es gut, dass viele Ausländer kommen, dass man ins Gespräch kommt und dass sich die Welt einen eigenen Eindruck von der Vielseitigkeit unseres Landes machen kann.“

Russland ist das flächengrößte Land der Welt. Mit mehr als 17 Millionen Quadratkilometern ist das Land fast so groß wie Nummer zwei (USA) und die Nummer drei (Kanada) zusammen. Zwischen St. Petersburg im Nordwesten und Wladiwostok im Südosten liegen knapp 9000 Kilometer.

Die neuen Regeln bei der WM

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    Die Menschenrechtslage ist weiter problematisch

    Als jenes Riesenreich im Dezember 2010 in Zürich also den Zuschlag für die Ausrichtung der diesjährigen WM bekommen hat, gab der begeisterte Präsident Putin eine russische Volksweisheit zum Besten: „Bei uns sagt man: Wer nichts riskiert, trinkt auch keinen Champagner.“ Acht Jahre später wird man sehen, wer am 15. Juli, dem Finaltag, tatsächlich Champagner trinkt. Im Club „Cultura“ bestellt sich Konstantin lieber ein Bier – und berichtet gemeinsam mit seiner Freundin Jana ein wenig über das Riskieren.

    „Wer sich in der Opposition engagiert, der bekommt Probleme“, sagt Konstantin. Der Musikfan hat in Berlin Kulturwissenschaften studiert, ist nach sieben Jahren in Deutschland 2013 zurück nach Russland gekommen. „Bei uns ist das mit den Menschenrechten wie mit dem Wlan. Theoretisch haben wir es, aber praktisch funktioniert es nicht“, sagt Jana, die ebenfalls ein Jahr in Berlin gelebt hat.

    Für Despoten ist eine WM auch eine Bühne

    In Theorie und Praxis ist die WM in Russland zunächst einmal: ein Fußball-Turnier. Doch wer in diesen Tagen über gemeinsame Fotos mit Nationalspielern und Despoten dieser Erde diskutiert, der dürfte auch schnell verstehen, dass so eine WM eben auch eine Bühne ist. Für die einen. Und für die anderen.

    Während in Deutschland leidenschaftlich über das Treffen zwischen Mesut Özil und Ilkay Gündogan mit dem türkischen Präsidenten Recep Tayyip Erdogan gestritten wird, ist in Russland das gemeinsame Foto mit Ägyptens Superstar Mohamed Salah und Ramsan Kadyrow, dem selbsterklärten Schwulenhasser und despotischen Alleinherrscher in der Teilrepublik Tschetschenien, maximal eine Randnotiz.

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      Ein roter WM-Trainingsanzug für die Mithilfe von Freiwilligen

      Doch für Russlands Regierung könnte sich die Austragung der WM im schlechtesten Fall (oder je nach Blickwinkel: bestenfalls) zu einer Art russischem Roulette entwickeln: Einerseits bietet so ein Turnier die Möglichkeit, die Reihen zu schließen. Andererseits öffnet man sich nach außen.

      „Die ganze Welt wird in den nächsten Wochen sehen, wie schön es in Russland ist“, sagt Igor. Der etwas füllige Herr mit dem etwas schütteren Haar steht direkt vor dem WM-Countdown am Roten Platz. „Zwei Tage, sieben Stunden, 50 Minuten“, steht auf dem Ziffernblatt am Dienstagmorgen. „Ich kann es gar nicht erwarten“, sagt Igor, der sich währwend der Weltmeisterschaft als Freiwilliger für die Fifa gemeldet hat. Sein Lohn: Ein roter WM-Trainingsanzug, der über seinem Bäuchlein etwas spannt. Seine Aufgabe: Touristen und Fans helfen und Fragen beantworten. „Ich bin mir sicher“, sagt Igor, „dass die Leute einen guten Eindruck von Russland bekommen.“

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        Stadien, die Flughäfen, die Hotels – alles fertig geworden zur WM

        Fragen gibt es vor dem Start der 21. WM genug. Oppositionelle werden eingesperrt, beim Stadionbau verschwanden Millionen. Und dann gibt es da ja auch noch die Krim-Annexion, die Kriege im Donbass sowie in Syrien und die Gerüchte über russische Einflussnahme bei den US-Wahlen. „Seit 2012 hat sich die allgemeine Menschenrechtslage dramatisch verschlechtert“, steht im Russland-Buch der Menschenrechts-Organisation Human Rights Watch.

        Von dieser Menschenrechtslage wollen sich die Organisatoren ihre WM allerdings nicht kaputt machen lassen. Rechtzeitig zum populärsten Sportfest der Welt ist schließlich alles fertig geworden: die Stadien, die Flughäfen, die Hotels. In Moskau gibt es keine größere Straße, an der nicht die weiß-blau-roten WM-Fähnchen wehen.

        11,8 Milliarden Dollar soll die WM kosten

        „Welcome Germany!“, steht auf einer großen Werbetafel in der Mnewniki Uliza (Straße). Auch das WM-Maskottchen Zabivaka, ein Fußball spielender Wolf, ist allgegenwertig. Und obwohl die ganz große Euphorie so kurz vor dem ersten Anpfiff des Turniers noch nicht aufkommen will, verspricht Präsident Putin: „Es wird ein wunderbares Fest.“

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          Vor allem ein ziemlich teures. 11,8 Milliarden Dollar soll die WM laut offiziellen Angaben kosten. In Wahrheit dürften die Kosten wohl noch viel üppiger ausfallen. Doch auch so ist es bereits jetzt die teuerste WM aller Zeiten. Konstantin schüttelt im Club „Cultura“ den Kopf: „Geldverschwendung.“ Als DJ, Musikproduzent und Werbetexter verdient er rund 1000 Euro im Monat. Seine kleine Ein-Zimmer-Wohnung im Zentrum kostet 25.000 Rubel, umgerechnet rund 340 Euro.

          Auf dem Land ist vieles ganz anders als in Moskau

          Als ein notorischer Nörgler will Konstantin nicht gesehen werden. „Gerade Moskau hat sich in den vergangenen Jahren krass entwickelt“, sagt der Fußball-Muffel. Das Metro-Netz wird immer weiter ausgebaut – und rechtzeitig zur WM sind auch die meisten zweisprachigen Hinweisschilder fertig geworden. „Moskau und der Rest von Russland sind allerdings zwei unterschiedliche Paar Schuhe“, sagt der frühere Wahl-Berliner. „Die jungen Leute hier sind in großen Teilen kritisch, lassen sich nicht durch die Propaganda im Fernsehen beirren und verfolgen Oppositionspolitiker wie Alexei Nawalny über Youtube.“ Auf dem Land sei das anders.

          Laute Propaganda, leise Proteste, ein bisschen Politik und ganz viel Patrio-tismus. Irgendwo dazwischen wird sich wohl auch diese WM wiederfinden. „Wahrscheinlich werde sogar ich auch mal ein Spiel schauen“, sagt Konstantin, als seine Elektroparty um 5 Uhr morgens dem Ende entgegengeht. Denn falls es jemand vergessen haben sollte: Fußball wird in Russland auch noch gespielt.