Ost-Ghuta/Berlin. Syrien erlebt eine der schlimmsten Angriffswellen seit Beginn des Bürgerkriegs. In Ost-Ghuta starben 200 Zivilisten in nur 48 Stunden.

Zivilschützer rennen über den Schutt zerschossener Straßen, hinein in den Rauch, der von der letzten Bombe aufsteigt. Sie suchen verzweifelt nach Überlebenden des Angriffs. Väter hasten mit ihren Kindern auf dem Arm aus Häusern, die nur noch Ruinen sind. Schreie von Verletzten und Schwerverwundeten durchmischen sich mit dem surrenden Geräusch der nächsten Rakete. Gesichter, die mit Blut und Staub verschmiert sind, apathische Blicke geistern durch das, was einmal ein Wohnviertel war. Die Krankenhäuser sind überfüllt, die Medikamente gehen aus. In den Leichenhallen stapeln sich die Körper der Toten in weißen Plastiksäcken.

Die Stadt Hamouria ist ein Ort des Grauens. Sie liegt in Ost-Ghuta östlich von Damaskus, einem der letzten Gebiete Syriens unter der Kontrolle von Rebellen. Es sind apokalyptische Bilder, die an die Offensive der syrischen Regierungstruppen gegen die Rebellen in Aleppo im Sommer 2016 erinnern.

Am Montag und Dienstag erlebte die Region eine der blutigsten Angriffswellen der syrischen Streitkräfte seit Beginn des Bürgerkriegs vor fast sieben Jahren. Bombardierungen aus der Luft und Artillerie hätten in der Region in weniger als 48 Stunden mehr als 230 Zivilisten getötet, darunter Dutzende Frauen und Kinder, meldete die Syrische Beobachtungsstelle für Menschenrechte. Mehr als 1100 Menschen seien verletzt worden, viele davon schwer.

Höchste Opferzahl an nur einem Tag seit drei Jahren

Rauch steigt auf am Dienstag nach einem Luftschlag der Assad-Truppen in der Stadt Hamouria.
Rauch steigt auf am Dienstag nach einem Luftschlag der Assad-Truppen in der Stadt Hamouria. © AFP/Getty Images | Getty Images

Allein am Montag starben demnach 127 Zivilisten. Es handele sich um die höchste Opferzahl an nur einem Tag seit drei Jahren, erklärten die Menschenrechtler. Am Dienstag seien mindestens 87 Menschen getötet worden. „Es war die Hölle“, sagte ein Arzt aus einem Krankenhaus in Ost-Ghuta, der nur mit seinem Vornamen Mohammed zitiert werden wollte, über die Angriffe. „Wir mussten mit ansehen, wie Kinder in unseren Händen an ihren schweren Wunden gestorben sind, weil sie zu spät ins Krankenhaus kamen.“

Der Bürgerkrieg hatte im März 2011 mit Protesten gegen die autoritäre Regierung von Machthaber Baschar al-Assad begonnen. Die Region Ost-Ghuta gehört zu den letzten Gebieten, aus dem die Regierungstruppen die Rebellen noch nicht vertrieben hatten. Dominiert werden sie von islamistischen Milizen, darunter der syrische Ableger des Terrornetzwerks al-Qaida.

Assads Truppen versuchen wie im Fall Aleppos einen Vernichtungskrieg gegen die verbliebenen Widerständler. Unterstützt werden sie von der russischen Luftwaffe und schiitischen Milizen. Assad und Kremlchef Wladimir Putin verfolgen eine Politik der eisernen Faust: Ganz Syrien soll rebellenfrei werden und unter die Kon­trolle von Damaskus kommen. Zivile Opfer werden diesem Ziel als Kollateralschäden untergeordnet.

Aktivisten: Mehr als 100 Tote bei Luftangriffen auf Ost-Ghuta

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    Rund 400.000 Menschen von der Außenwelt abgeschnitten

    Ost-Ghuta ist seit Monaten von Regierungstruppen eingeschlossen. Rund 400.000 Menschen sind dort wegen der Blockade fast vollständig von der Außenwelt abgeschnitten. Über Wochen durften keine Hilfslieferungen in das belagerte Gebiet. Das habe zu einem schlimmen Mangel an Nahrungsmitteln geführt, sagte der regionale UN-Nothilfekoordinator, Panos Moumtzis. Die Raten an Mangelernährung hätten ein beispielloses Niveau erreicht.

    Ein verletztes Kind in einem Krankenhaus in Hamouria.
    Ein verletztes Kind in einem Krankenhaus in Hamouria. © AFP/Getty Images | Getty Images

    Die Hilfsorganisation UOSSM teilte mit, fünf Krankenhäuser in Ost-Ghuta seien gezielt bombardiert worden und außer Betrieb. Die Region erlebe eine „humanitäre Katastrophe im 21. Jahrhundert“, erklärte der Leiter des UOSSM-Büros in Ost-Ghuta, Mohammed Chair Sammud. Mit einer ungewöhnlichen Erklärung prangerte das UN-Kinderhilfswerk Unicef die heftigen Angriffe auf Ost-Ghuta an.

    Die Organisation veröffentlichte am Dienstag eine weitgehend leere Mitteilung. Darin wird Unicef-Regionaldirektor Geert Cappelaere mit den dürren Sätzen zitiert: „Wir haben nicht länger die Worte, um das Leiden der Kinder und unsere Empörung zu beschreiben. Haben diejenigen, die dieses Leiden verursachen, noch Worte, um ihre barbarischen Taten zu rechtfertigen?“ Oppositionelle werfen der syrischen Regierung vor, sie wolle Ost-Ghuta wie schon zuvor andere belagerte Gebiete so lange massiv bombardieren, bis die Rebellen zur Aufgabe gezwungen seien.

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    Schon vor der neuen Angriffswelle gehörte Ost-Ghuta zu den Gebieten, die am heftigsten vom Bürgerkrieg getroffen wurden. 2013 erlebte die Region einen verheerenden Angriff mit Saringas, bei dem Hunderte Menschen starben. Oppositionelle und der Westen machten die Regierung dafür verantwortlich. Der investigativen Internetplattform Bellingcat zufolge wurde Ost-Ghuta in diesem Jahr mit Chlorgas angegriffen. Die Regierung wies den Vorwurf zurück, Chemiewaffen eingesetzt zu haben.

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      In Nordsyrien wurde am Dienstag eine weitere Front eröffnet:

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      Dies berichteten syrische und türkische Medien. Die staatliche Nachrichtenagentur Anadolu der Türkei meldete am Dienstag Artilleriebeschuss in der Region. Warnschüsse seien auf mit dem syrischen Regime verbundene „terroristische Gruppen“ abgefeuert worden. Diese hätten versucht, in die Stadt Afrin zu gelangen, hätten sich aber aufgrund des Beschusses zurückgezogen.

      Kurz zuvor waren erste syrische Regierungskräfte in Afrin eingerückt, wie die Kurdenmiliz YPG bestätigte. Die Einheiten sollten sich an der Verteidigung der Einheit Syriens und der Grenzen des Landes beteiligen. Die Kurden wollen so einen Angriff der Türkei stoppen. Die YPG wird von der Türkei bekämpft, weil sie in ihr einen Ableger der verbotenen kurdischen Arbeiterpartei PKK sieht. Die USA betrachten die YPG als Verbündete gegen die Terrormiliz „Islamischer Staat“ (IS). Sollten syrische Kräfte gegen türkische Einheiten kämpfen, droht die Gefahr einer Eskalation. Im schlimmsten Fall könnten die Großmächte Russland und Amerika in den Konflikt hineingezogen werden.