Holocaust-Überlebende bei Anne Will: Antisemitismus noch da
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Von Anne-Sophie Balzer
Berlin. Anne Will widmete sich dem Holocaust-Gedenktag. Eine Auschwitz-Überlebende stellte Deutschland dort ein trauriges Urteil aus.
„Ich singe so lange, bis es keine Nazis auf der Welt mehr gibt.“ Dieses Gelübte hat sich Esther Bejarano auferlegt. Sie hat das Vernichtungslager Auschwitz überlebt, weil sie als junges Mädchen dort im Orchester spielte, während die Häftlinge im Gleichschritt marschieren mussten.
Dass sich Bejarano die Liebe zur Musik bewahrt hat und nach ihrer Flucht vor den Nazis nach Palästina ausreist, Musik studiert und Sängerin wird, dass sie bis heute Musik macht und mit ihrem Sohn in einer Band gegen rechts rappt: Es darf als ein Sieg gegen die Nazionalsozialisten und ihre an Perfidität kaum zu überbietende Idee gelten, in einem Vernichtungslager Musik spielen zu lassen. Das Motto der Nazis: „Wo Musik spielt, kann es nicht so schlimm sein:“
Deutschland ist nie entnazifiziert worden
All dies berichtet die 93-jährige Frau mit den hellwachen Augen am Sonntagabend bei „Anne Will“, das Thema der Sendung ist dem
gewidmet: „Wie antisemitisch ist Deutschland heute?“
Bejaranos Antwort: „Ich bin der Meinung, dass es immer antisemitisch war. Deutschland ist nie entnazifiziert worden, der Antisemitismus hat nie aufgehört. Und natürlich kann sich Geschichte wiederholen.“ Es muss ein niederschmetterndes Urteil für all diejenige sein, die in Bildungseinrichtungen, in Schulen und Universitäten, in antirassistischen und antisemitischen Initiativen oder in Gedenkstätten arbeiten und sich täglich gegen das Vergessen einsetzen.
Ist die historische Aufarbeitung gescheitert?
Doch auch die anderen Gäste der Sendung mögen Bejarano nicht widersprechen, zu offensichtlich tritt antisemitischer Hass in Deutschland immer wieder zutage, haben sich die Grenzen des Sagbaren besonders in sozialen Netzwerken verschoben. Die Kulturstaatssekretärin Monika Grütters (CDU) beteuert: „Wir tun ehrlichen Herzens sehr viel und wir tun immer mehr. Aber es kann nie genug sein.“
Wenzel Michalski, Direktor des Human Rights Watch Büros und Sohn von Holocaust-Überlebenden, gibt zu bedenken: „Es wird stets gesagt: Währet den Anfängen. Aber die Anfänge sind ja schon da, es hat schon angefangen.“ Vervollständigt wird die Runde von dem Historiker und langjährigen Professor für deutsch-jüdische Geschichte, Julius H. Schoeps, sowie der Berliner Staatssekretärin Sawsan Chebli (SPD), Gründerin des Berliner Arbeitskreis gegen Antisemitismus.
Schoeps unterstreicht Bejaranos Aussage mit Zahlen: „Wir wissen, 15 bis 20 Prozent der deutschen Bevölkerung hat antisemitische Einstellungen. Wir müssen das als eine kollektive Bewusstseinskrankheit verstehen.“ Immer mal wieder brächen die alten Vorurteilsbilder auf, befeuert durch politische oder mediale Ereignisse. Schoeps geht so weit, Antisemitismus als integralen Bestandteil der deutschen Kultur zu verorten. „Sie finden antisemitische Einstellungen überall. In der Literatur, der Kunst, der Dichtung, überall gibt es diese alten Stereotype.“
Religionszugehörigkeit als Beleidigung
In aktuellen Situationen brechen diese alten Bilder sich dann in hässlichen Szenen Bann, wenn etwa 14-jährige Jungen sich auf dem Schulhof als „Jude“ beschimpfen. Woher haben sie die Vorstellung, die Religionszugehörigkeit des anderen als Beleidigung zu nutzen?
Wenzel Michalski kann eine solche Geschichte von seinem Sohn erzählen, der im vergangenen Jahr in einer Berliner Schule gequält wurde. Als Klassenkameraden herausfanden, dass er jüdischen Glaubens ist, hätten sie ihm gesagt: „Wir können nicht mehr mit dir spielen, ihr Juden seid Mörder. Es waren leider Kinder türkischer und arabischer Abstammung“, erzählt Michalski. Die Schule selbst blieb untätig. Als der Fall Schlagzeilen machten, bekam Michalski zahlreiche Zuschriften von Eltern, deren Kinder ebenfalls antisemitisch beleidigt und diskriminiert wurden – auch er sieht deutlich strukturelle Probleme hinter diesen Vorfällen.
Porträts von Holocaust-Überlebenden
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Dem Antisemitismus seine eigene #metoo-Debatte
Fakt ist: Jüdische Kinder gehen wieder vermehrt auf jüdische Schulen, weil sie an staatlichen Einrichtungen zu oft Anfeindungen ausgesetzt werden. Diese erzwungene Segregation ist ein alarmierendes Zeichen. Und würden all jene laut werden, die antisemitisch beschimpft oder gar tätlich angegriffen werden, es gäbe bald eine zweite #metoo-Debatte von ähnlicher Lautstärke, wie sie sich derzeit gegen eine Kultur des Sexismus richtet.
Bringt denn alle Erinnerungskultur nichts? Alle Aufklärungsinitiativen, alle Gedenkkulturarbeit, die Fahren in die Konzentrations- und Vernichtungslager, die Zeitzeugenbesuche an Schulen, die auch Bejarano noch regelmäßig macht?
Doch, sagt Bejarano, aber wir dürfen niemals nachgeben, müssen stets wachbleiben. „Ich mache diese Arbeit, damit die Jugend erfährt, was damals geschah. Ich sage immer: Ihr habt keine Schuld. Aber ihr macht euch schuldig, wenn ihr nichts wissen wollt über die Geschichte.“
Trotz antisemitischen Zwischenfällen an Schulen, in Fußballstadien, vor israelischen Restaurants wie zuletzt im Dezember 2017 in Berlin, sind die Gäste von Anne Will allesamt gegen verpflichtende Besuche von Schulklassen in Konzentrationslagern – ein Vorschlag, der zuletzt in den verschiedenen Bundesländern diskutiert wurde. Gedenken aus Zwang bewirke eher das Gegenteil, so die einhellige Meinung.
Esther Bejarano wiederum ist durch ihre Besuche in den Schulen dennoch positiv gestimmt. Wenn sie erzählt, dass sie eine der letzten Zeugen des Holocausts sei, dann kämen die Kinder oftmals nach ihrem Vortrag zu ihr und sagten: „Frau Bejarano, Sie müssen sich keine Sorgen machen: Wir werden Ihre Geschichte weitererzählen.“