Essen. In „Die Getriebenen“ leben entscheidende Stunden der Flüchtlingskrise 2015 wieder auf. Ein Film, der auch 2020 nach vorn weisen kann.

Unter welchen Bedingungen findet politisches Entscheiden und Handeln statt? Unter welchem Druck stehen die Verantwortlichen, deren Einschätzungshorizont sich im Zeitalter digitaler Kommunikation von einer Sekunde auf die andere verschieben kann? Sind Fehler erst im Rückblick erkennbar? Das sind Fragen, die das unbedingt sehenswerte Doku-Drama „Die Getriebenen“ aufwirft. Nicht nur, aber auch.

Die Corona-Pandemie war Äonen entfernt, als der politische Journalist Robin Alexander, heute stellvertretender Chefredakteur der „Welt“, 2017 seine glänzend recherchierte Bilanz der Ereignisse des Flüchtlingssommers 2015 vorlegte. Am Ende stand Angela Merkels einseitige Ausrufung einer humanitären „Willkommenskultur“, die Europa polarisierte, die von breiten Teilen der deutschen Bevölkerung aber zunächst getragen wurde und erst mit einiger Verzögerung zu Verwerfungen in der Gesellschaft und zum Erstarken einer Rechtsaußen-Partei führte.

„Die Getriebenen“: Doku-Drama hat atemberaubendes Tempo

Auf der Basis des Sachbuchs rekonstruierten Florian Oeller (Drehbuch) und Stephan Wagner (Regie) in ihrer eindringlichen Mischung aus Archivmaterial und Spielszenen detailgetreu 63 folgenschwere Tage zwischen Juli und September 2015. Das atemberaubende Tempo des Doku-Dramas lässt dabei den Zeitdruck nachempfinden, dem Entscheidungsträger in Deutschland, in Europa angesichts der sich überschlagenden Ereignisse ausgesetzt waren.

• Interview mit Imoge Kogge: „Ich hoffe auf den Humor der Kanzlerin“

Sieht der Kanzlerin mit dem passenden Kostüm erstaunlich ähnlich: Schauspielerin Imogen Kogge als Angela Merkel.
Sieht der Kanzlerin mit dem passenden Kostüm erstaunlich ähnlich: Schauspielerin Imogen Kogge als Angela Merkel. © rbb/carte blanche/Volker Roloff | rbb/carte blanche/Volker Roloff

Während in Brüssel, Berlin, Paris noch um die Bewältigung der Währungskrise und den Verbleib Griechenlands in der Euro-Zone gerungen wurde, flohen Millionen von Menschen in Nahost vor Bürgerkrieg und Elend und suchten Schutz in Europa.

Doch niemand war auf den voraussehbaren Flüchtlingsstrom vorbereitet. Als Griechenland und Italien zusehends vor dem Ansturm kapitulierten, steht Europa vor einer Zerreißprobe. Dann trieb Ungarns Präsident Viktor Orbán die Eskalation des Konflikts vollends voran und öffnete die so genannte Balkan-Route in Richtung Österreich/Deutschland. Angela Merkel, die sich so besonnen wie vergeblich um eine der Humanität verpflichtete gesamteuropäische Lösung bemüht hatte, sah sich zu einem folgenschweren deutschen Alleingang genötigt.

Der gemeinsame Gegner hieß Merkel

Der Film mit seinen den politischen Akteuren irritierend ähnelnden Schauspielern, allen voran Imogen Kogge als Kanzlerin, ist kein Lehrstück mit klaren Bewertungen. Er bietet Deutungsmöglichkeiten und veranlasst den Zuschauer vielleicht sogar, sein Verständnis von politischen Abläufen zumindest zu überprüfen. Zumal der Blick zurück auf das Krisenjahr 2015 auch nach vorn weisen kann.

Bei der Premiere: Walter Sittler (v.l.) spielt in „Die Getriebenen“ Frank-Walter Steinmeier, Tristan Seith ist im Film Peter Altmaier, Imogen Kogge spielt Angela Merkel und Matthias Kupfer ist als Markus Söder zu sehen.
Bei der Premiere: Walter Sittler (v.l.) spielt in „Die Getriebenen“ Frank-Walter Steinmeier, Tristan Seith ist im Film Peter Altmaier, Imogen Kogge spielt Angela Merkel und Matthias Kupfer ist als Markus Söder zu sehen. © dpa | Jonas Walzberg

Damals suchten (fast) alle, ob Söder, Gabriel, Seehofer oder Spahn, vor allem ihren persönlichen oder parteipolitischen Vorteil. Der gemeinsame Gegner hieß Merkel. Jetzt hingegen, angesichts des alle bedrohenden Gegners Corona, ist Deutschland unter einem Dach aus Konsens und Solidarität vereint.

Das stimmt zuversichtlich. Und täuscht doch nicht darüber hinweg, dass eine Krise nie irgendwann einfach mit der ultimativen Lösung endet.

• Mittwoch, 15. April, 20.15 Uhr, Das Erste: „Die Getriebenen“ / Hier sehen Sie den Film in der ARD-Mediathek