Berlin. Bei „Anne Will“ ging es um Chemnitz und die Folgen. Sachsens Ministerpräsident schützt die Polizei. Serdar Somuncu kritisiert Merkel.

Hat Sachsen ein Problem mit Rechtsradikalen? Hat seit dem gewaltsamen Tod eines 35-Jährigen die sächsische Landesregierung die Kontrolle über Chemnitz verloren? Und wenn ja, wer ist schuld daran: Politik, Staat oder Bürger? Diese Fragen stellte Anne Will am Sonntagabend Michael Kretschmer (CDU), Ministerpräsident Sachsens, dem ehemaligen Bundestagspräsidenten Wolfgang Thierse (SPD), der sächsischen Staatsministerin für Gleichstellung und Integration Petra Köpping (SPD), Serdar Somuncu, Satiriker und dem Journalisten Olaf Sundermeyer.

Die Debatte

Chemnitz kommt nicht zur Ruhe.

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. Zu einem sogenannten Trauermarsch waren hunderte Anhänger von Pegida, AfD, Pro Chemnitz und anderen rechten Gruppierungen zusammengekommen. Gewidmet war der Marsch allen Menschen, die angeblich durch Flüchtlinge umgebracht worden sein sollen. Auf der anderen Seite stand ein breites gesellschaftliches Bündnis aus etwa 4000 Gegendemonstranten, dazwischen tausende Polizisten.

Insgesamt verlief der Tag wesentlich ruhiger als noch der vergangene Montag, an dem fast 7500 Protestler, unter ihnen bekannte Rechtsradikale, durch Chemnitz marschierten, Parolen riefen wie „Widerstand“, den Hitlergruß zeigten und Menschen mit dunkler Hautfarbe durch die Stadt hetzten.

Für Sachsens Ministerpräsident Michael Kretschmer, das wird zu Beginn der Sendung schnell klar, ist das kein Grund zur Selbstkritik. Die Polizei habe zu jeder Zeit alles im Griff gehabt. Doch warum waren dann am Montag so wenige Polizisten vor Ort, wollte Journalist Olaf Sundermeyer wissen, und das, obwohl der sächsische Verfassungsschutz vorher sogar vor einem Aufmarsch der Rechten in Chemnitz gewarnt habe? Die Lage sei grob fahrlässig eingeschätzt worden, die Polizei hätte mit einer vierstelligen Zahl von Polizisten vor Ort sein müssen, so Sundermeyer.

Kretschmer findet die Vorwürfe unverschämt. „Sie kennen die Situation gar nicht“, erwidert er, verbittet sich auch danach jede Kritik an der sächsischen Polizei. Stattdessen lenkt der Ministerpräsident auf das für ihn „eigentliche Thema der Sendung“: Wie man die Menschen in Chemnitz und Sachsen wieder auf „unsere Seite“ bringt.

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Die Experten

Wie die Ostdeutschen ticken, das wissen vor allem Wolfgang Thierse und Petra Köpping. Da macht es auch nichts, dass beide von derselben Partei, der SPD, kommen – wofür sich Anne Will aber gleich zu Beginn der Sendung rechtfertigt. Die Entscheidung der Redaktion jedoch war goldrichtig: Thierse und Köpping liefern die notwendigen Erklärungen, die sich nur in ihren Handlungsaufforderungen an die Bürger unterschieden – oder versöhnlicher ausgedrückt: ergänzen.

Wolfgang Thierse, aufgewachsen in der DDR, engagierte sich nach der Wende in der Bürgervereinigung Neues Forum. In der SED war er nie, obwohl auch er im Staatsapparat der DDR tätig war. Ihn stört der manchmal doch zu sanfte Umgang mit ostdeutschen Bürgern, die sich allzu leicht von rechten Parolen verführen lassen oder sie nicht hinterfragen: „Ich habe kein Verständnis für Leute, die bei Rechten ihre Trauer zum Ausdruck bringen wollen“.

Der Klassiker: Mehr Verständnis für „besorgte Bürger“

Er verstehe, dass die Menschen oft nicht wüssten, wohin mit ihrer Wut, doch das entbinde sie nicht davon, sich von Leuten zu distanzieren, die den Hitlergruß zeigen. Die Leute müssten lernen, ihren Ärger anders zu Ausdruck zu bringen: „Es ist die Aufgabe der Ostdeutschen, für Demokratie einzutreten.“

Mehr Verständnis für „besorgte Bürger“ bringt Petra Köpping auf. Auch sie wuchs in der DDR auf, trat 1986 in die SED ein und reist spätestens seit ihrem Amt als sächsische Staatsministerin für Gleichstellung und Integration durch Sachsen, um eine genaue Vorstellung von den Ängsten der Bürger ihres Landes zu bekommen: „Integriert doch erstmal uns“ sei ein Satz, den Köpping ständig höre. Besonders im direkten Gespräch auf Veranstaltungen wie Pegida erkenne sie, dass Flüchtlinge nur Vorwand für ganz andere Ängste sind: „Viele Menschen haben nach der Wende nicht nur ihren Job, sondern in ihr ganzes Leben verloren.“

Der Aufreger

Kabarettist Serdar Somuncu erklärt zunächst, dass die Ausschreitungen in Sachsen, das Problem mit Rechtsradikalen, viele Quellen habe. Der Konflikt zwischen Ost- und Westdeutschland, geprägt durch Klischees, alle Sachsen seien Nazis, sei nur ein Problem von vielen. Der Frust der Wendeverlierer decke sich nicht mit der Politik aus Berlin.

Bis zu diesen Punkt schienen alle Teilnehmer mit Somuncu einer Meinung zu sein. Doch dann sagt der Sohn türkischer Gastarbeiter, dass Angela Merkels „Wir schaffen das“-Politik dazu geführt habe, dass nun Menschen in Deutschland seien, die „gar nicht hier sein dürfen. Keiner hat sich Gedanken gemacht, wie man mit den Leuten umgeht. Wir müssen über unsere eigenen Fehler nachdenken.“

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    Fehler ja, die seien gemacht worden. Die provokante Zuspitzung des Kabarettisten will Wolfgang Thierse so aber nicht stehen lassen: „Ich muss Ihnen entschieden widersprechen. Wir gehen doch jetzt wieder den Rechten in die Falle.” Auch auf Twitter zeigten sich viele überrascht, einige gar entsetzt von den Äußerungen Somuncus – darunter auch, dass die Willkommenskultur von 2015 ein übergestülptes Dekret von Merkel gewesen sei.

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    Fazit

    Deutschland ist auch nach den Ausschreitungen von Chemnitz noch das gleiche Land wie zuvor. Rechtsradikale gibt es nicht erst seit den fremdenfeindlichen Übergriffen. Das sieht auch Somuncu ein, wenn er an Rostock-Lichtenhagen oder Hoyerswerda erinnert. Doch der enge Schulterschluss von Hooligans, Rechtsextremen, Pegida und AfD, der sich am Samstag in Chemnitz das erste Mal offiziell zu erkennen gegeben hat, berge Gefahren für alle Demokraten im Land; und das sind für Petra Köpping alle Bürger, die nicht rechts sind.

    Demokratie sei auch ein Streit nach Regeln der Fairness, sagt Wolfgang Thierse. In Ostdeutschland ist seit der Wende die Angst vor Heimatverlust größer als im Westen. Die Angst vor Flüchtlingen ist nur die fassbarste. Darauf können sich schließlich alle Teilnehmer einigen.