Berlin/Mariupol. Soldaten und Zivilisten harren im Stahlwerk in Mariupol aus. Putin kündigte die Belagerung der Stadt an. Verhungern die Menschen?

Das junge Mädchen erzählt von den Detonationen. „Der ganze Boden wackelt“, sagt sie. Eine Mutter steht neben ihrem Sohn vor einem Hochbett. Die Zähne ihrer Kinder würden anfangen zu verrotten, erzählt die Frau. „Sie bekommen zu wenig Vitamin D, es gibt hier kein Sonnenlicht.“

Ihre Kinder würden viel weinen, manchmal zucken sie im Schlaf. Eine andere Frau sagt: „Am Anfang gab es von allem viel, man hat uns gesagt, es gebe Vorräte für ein Jahr.“ Das hieß es, das Essen reiche für einen Monat. Jetzt sei es unklar, wie lange.

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Die Menschen drängen sich dicht an dicht in einem Kellerraum. An den Wänden und von Rohren hängt Wäsche, in Plastiktüten steckt Kleidung, das Licht flackert. Es sind Videoaufnahmen, die Soldaten des extrem rechten „Asow Regiments“ auf ihrem Telegram-Kanal veröffentlicht haben.

Stahlwerk Mariupol: Tausend Zivilisten und Hunderte Verletzte und Soldaten harren hier aus

Das Video soll die Situation im Keller unter dem großen Asow-Stahlwerk in der ukrainischen Stadt Mariupol zeigen. Die Bilder und Aussagen der Zivilisten sollen von Anfang dieser Woche stammen. Lesen Sie auch: Wer ist das umstrittene Asow-Regiment im Ukraine-Krieg?

Die Aufnahmen lassen sich nicht unabhängig überprüfen. Die Angaben decken sich zumindest mit Informationen der ukrainischen Regierung und Aussagen von Asow-Kommandeuren vor Ort. Rund tausend Zivilisten, vor allem Frauen und Kinder, sowie „Hunderte Verletzte“ und Soldaten sollen sich unter dem Gebäude in dem Tunnelnetzwerk und in Kellerräumen aufhalten. Lesen Sie auch: So groß sind die russischen Verluste im Ukraine-Krieg

Das Video ist, glaubt man den Hilferufen der ukrainischen Streitkräfte in dem Stahlwerk, vielleicht eine ihrer letzten Botschaften aus einer umkämpften und von russischen Truppen belagerten Stadt. Die ukrainischen Behörden befürchten, dass mehr als 20.000 Menschen in Mariupol gestorben sein könnten.

Putin hat angeordnet, das Werk „engmaschig“ zu umzingeln

Mariupol, die strategisch wichtige Hafenstadt im Süden der Ukraine, ist zum Symbol geworden: für den brutalen russischen Angriffskrieg, für die verzweifelte Abwehrschlacht der Ukrainern. Aber vor allem auch für das Leid der unschuldigen Zivilisten.

Flammen steigen nach einem russischen Raketenangriff aus dem Asow-Stahlwerk in Mariupol auf.
Flammen steigen nach einem russischen Raketenangriff aus dem Asow-Stahlwerk in Mariupol auf. © AFP | Handout

Am Donnerstag verkündete Russlands Präsident Wladimir Putin die „Befreiung“ Mariupols – nach zwei Monaten Krieg. Zugleich räumte Putin ein, dass das Stahlwerk noch immer nicht unter Kontrolle der russischen Armee ist. Er habe angeordnet, das Werk „so engmaschig“ zu umzingeln, dass „nicht einmal eine Fliege rauskommt“.

Bei einem im Staatsfernsehen gezeigten Treffen mit seinem Verteidigungsminister Sergej Schoigu sagte Putin, eine Erstürmung sei nicht sinnvoll. Zu riskant für Russlands Militär: Es könnte etliche Soldaten das Leben kosten. Offenbar will Putin diese Szenarien vermeiden. Denn schon in den ersten Wochen mussten die russischen Streitkräfte heftige Verluste hinnehmen, die Truppen wirkten müde, oft abgekämpft, mehrere Generäle wurden getötet.

Asow-Befehlshaber: „Wenn die Russen uns nicht töten, dann der Hunger“

Und doch: Vor allem für die Menschen in dem Stahlwerk, direkt am Hafen von Mariupol, spitzt sich die Lage nun dramatisch zu. Immer wieder meldeten sich in den vergangenen Tagen Kommandeure des Asow-Regiments mit Videobotschaften. Einer von ihnen: Swjatoslaw Palamar. Er kündigte an, seine Einheit werde sich nicht mitsamt ihren Waffen ergeben. Er bat stattdessen um „Sicherheitsgarantien“ der „zivilisierten Welt“.

Ukraine-Krieg – Hintergründe und Erklärungen zum Konflikt

Unklar ist, inwiefern das Asow-Regiment auch Zivilisten daran hindert, das Stahlwerk zu verlassen. Auch lässt sich nicht sagen, ob die Menschen Angst davor haben, den russischen Soldaten in die Hände zu fallen. Aus mehreren Regionen, die von russischen Truppen besetzt waren, hatte es Berichte über mutmaßliche Kriegsverbrechen auch an Zivilisten durch Russlands Truppen gegeben.

Die „Welt“ veröffentlicht ein Telefon-Interview mit dem ukrainischen Befehlshaber Serhyj Wolyna, der sich mit seinen Soldaten im Stahlwerk verschanzt. „Wir versuchen durchzuhalten. Das ist nicht einfach, wenn man manchmal 48 Stunden lang nicht schläft. In jedem Moment können wir den nächsten Angriff erwarten.“ Strom bekämen die Soldaten und Zivilisten über Generatoren. „Trotzdem haben wir kaum Essen und Wasser. Wir essen einmal pro Tag. Wenn die Russen uns nicht töten, dann der Hunger.“

Mariupol: Strom, Leitungswasser und Heizung fehlen

Wolyna hatte sich bereits zuvor an Deutschland gewandt und appelliert, die Bundesregierung solle „als Garant den sicheren Auszug der Zivilbevölkerung und des Militärs“ aus Mariupol auftreten.

Russlands Präsident Wladimir Putin (li.) und Sergej Schoigu, Verteidigungsminister von Russland.
Russlands Präsident Wladimir Putin (li.) und Sergej Schoigu, Verteidigungsminister von Russland. © dpa | -

In Mariupol harren laut ukrainischen Angaben noch immer mehr als 100.000 Menschen aus. Auch unsere Redaktion stand in den vergangenen Wochen mit Menschen in Kontakt, die aus der Stadt fliehen konnten. Sie berichteten, wie sie in der umkämpften Stadt vor ihrer Flucht Holz gesammelt und Bäume gefällt hätten, um Lagerfeuer zu machen. Wie sie Wasser aus einem Brunnen holten und es abkochten. Strom, Leitungswasser, Heizung – all das gab es längst nicht mehr in Mariupol. Lesen Sie auch: Was Menschen aus Mariupol über die Belagerung der Stadt erzählen

Der Vize-Bürgermeister der Stadt berichtete ukrainischen Medien davon, dass Menschen sogar die Heizungsrohre aufgeschnitten hätten, um an Wasser zu kommen. Wer keinen Brunnen in seiner Nachbarschaft hat, sammelt das Regenwasser. Wenn es schneit, schmelzen die Einwohner den Schnee.

Mariupol: Baerbock fordert Putin zu Lösung auf

Immer wieder hat es Versuche von ukrainischer Seite gegeben, Menschen aus der belagerten Stadt mit Bussen in Sicherheit zu bringen – ein Fluchtkorridor aus der Hölle von Mariupol. Doch immer wieder scheiterten Versuche, weil die Kämpfe nicht stoppten. Russische und ukrainische Militärs hatten sich gegenseitig beschuldigt, die Kriegshandlungen nicht einzustellen. Am Mittwoch seien 80 Menschen aus Mariupol herausgebracht worden.

International sorgt die Belagerung von Mariupol für Entsetzen. Bundesaußenministerin Annalena Baerbock hat „jetzt endlich einen humanitären Korridor“ gefordert. Was die Welt erlebe, so Baerbock, sei ein „Ausbluten und Aushungern einer ganzen Stadt“. Eine Lösung liege „in Putins Hand“.

Dieser Artikel erschien zuerst auf waz.de.