Kabul. Etwa vier Monate nach der Machtübernahme der Taliban bahnt sich in Afghanistan eine humanitäre Katastrophe an. So ist die Lage vor Ort.

Parwin steht wie die anderen Frauen in der Schlange auf dem Hof des Marastoon. Kinder wuseln aufgeregt umher. Einer der bärtigen Männer hat die Fahne des afghanischen Roten Halbmonds an der Stirnseite des Hofs aufgestellt, daneben die weiße Fahne der neuen Herrscher Afghanistans. Beide hängen schlaff herunter. Pakete mit den Lebensmitteln und Reis- und Mehlsäcken lagern auf dem Boden. Parwin ist froh darüber, es liegen harte Monate hinter ihr und den anderen Frauen. „Die Situation ist schwierig“, sagt sie. Schwierig ist ein sehr diplomatisches Wort für die Lage in Afghanistan. Die Vereinten Nationen warnen bereits vor der größten humanitären Katastrophe der Welt.

Kabul, vier Monate nach der Machtübernahme der Taliban. Die afghanische Hauptstadt ist ruhig geworden. Beängstigend ruhig. Das notorische Verkehrschaos in der Zeit vor dem Regierungswechsel gibt es nicht mehr, auf den Straßen sind deutlich weniger Fahrzeuge unterwegs. Viele Menschen können sich den Sprit nicht mehr leisten, der Preis hat sich mehr als verdoppelt. Manche haben ihre Autos verkauft, um sich Lebensmittel kaufen zu können. Gegen Abend legt sich eine Dunstglocke über die Stadt. Es ist der übel riechende Rauch von brennender Kohle und Plastik. Anders können viele Einwohner Kabuls nicht mehr heizen und kochen. Auch Gas ist nun ein Luxusgut. Lesen Sie auch: Bundeswehr - Tausende Ortskräfte hoffen noch auf die Aufnahme

Afghanistan: Seit Monaten kein Lohn mehr für die Näharbeiten

Parwin (31) lebt seit sieben Monaten im Marastoon, einer Wohnanlage des Roten Halbmonds für alleinerziehende Mütter im der afghanischen Hauptstadt. „Mein Mann war bei der afghanischen Armee, er ist im Kampf gefallen“, erzählt Parwin. Früher, sagt sie, hätte sie eine kleine Witwenrente erhalten, dann blieb die aus, und sie musste mit ihren vier Kindern ins Marastoon ziehen. Hier können die Frauen an Näh- oder Computerkursen teilnehmen. Sie nähen dort Kleidung, Teppiche, Schleier. Bis vor vier Monaten hat Parwin dafür Lohn bekommen, 2000 Afghanis pro Monat. Das reichte auch damals nur knapp.

Jetzt ist die afghanische Währung im freien Fall. 2000 Afghanis sind nur noch 18 Euro wert. Aber die Wechselkurse sind für die Frauen im Marastoon ohnehin irrelevant. Sie haben seit Monaten gar keinen Lohn mehr bekommen, so wie viele andere Menschen in Afghanistan. Wie sie sich durchschlagen? „Wir leben einfach von Tag zu Tag, wir mussten in Geschäften anschreiben lassen“, sagt Qandiquala, die hinter ihr in der Schlange steht. Die 45-Jährige hat ihren Mann an Diabetes verloren, zwei Söhne starben im Kampf gegen die Taliban.

Wollte Körperstrafen einführen: Nooruddin Turabi, _Vizepräsident des Roten Halbmondes.
Wollte Körperstrafen einführen: Nooruddin Turabi, _Vizepräsident des Roten Halbmondes. © Jan Jessen | Jan Jessen

Maghforullah Shahidzoy sitzt hinter seinem Schreibtisch. „Die Frauen hier sind auf Hilfe angewiesen“, sagt er. Manche seien Witwen, die Ehemänner von anderen seien drogenabhängig, andere hätten das Land verlassen. „Wir wollen sie unterstützen, aber unser Geld ist in Amerika eingeschlossen.“ Nach der Machtübernahme der Taliban wurden afghanische Auslandskonten eingefroren. Aber das ist nur eines der vielen Probleme. Die kriegerischen Auseinandersetzungen der vergangenen Jahre haben Hunderttausende in die Flucht getrieben, das bitterarme Land leidet unter einer katastrophalen Dürre. Auch interessant: Taliban: So funktioniert die PR der Radikalislamisten

Die Hälfte von Afghanistans Bevölkerung ist von Nahrungsmittelknappheit bedroht

Laut Welternährungsprogramm der Vereinten Nationen sind fast 23 Millionen Menschen, mehr als die Hälfte der Bevölkerung, akut von Nahrungsmittelknappheit bedroht. Die Not spitzt sich täglich zu. In den sozialen Medien kursieren dramatische Geschichten, wie jene einer jungen Mutter, die ihr Neugeborenes für 10.000 Afghanis verkauft haben soll, um Essen kaufen zu können. Mittelschichtsfamilien verkaufen Möbel, Schmuck, Autos. Wer kann, flüchtet ins Ausland. Unter denen, die gehen, sind viele Ärzte. Mediziner werden aber dringender denn je gebraucht. Im Krankenhaus im Kabuler Viertel Tahia Maskan stellen Eltern jeden Tag zwischen 10 und 15 Kinder vor, die unterernährt sind, berichtet Shah Makmood Nazouri, der Leiter der internistischen Abteilung: „So schlimm war es noch nie.“

Viele internationale Hilfsorganisationen haben das Land verlassen. Die neuen Herrscher des Landes sind aber auf sie dringend angewiesen, und daraus machen sie keinen Hehl. „Wir danken euch für eure Hilfe“, sagt Marastoon-Leiter Shahidzoy zu Claudia Peppmüller, die für das Friedensdorf International nach Kabul gekommen ist. Die deutsche Hilfsorganisation hat gemeinsam mit dem Roten Halbmond die Lebensmittel-Verteilaktion für die Frauen in der Wohnanlage organisiert. 2000 Familien werden in den kommenden Tagen versorgt. Es ist ein schwieriger Spagat. Unterstützung für die Bevölkerung heißt auch, mit den Taliban zusammenarbeiten zu müssen. „Es gibt keine Alternative. Wir können nicht tatenlos zusehen, wie Menschen verhungern“, sagt Peppmüller. Lesen Sie auch: Afghanistan: Darum ist die Flucht der Bundeswehr-Helfer so schwierig

Selbst die Taliban wirbt um westliche Unterstützung

Die Taliban haben ihre Leute mittlerweile an der Spitze von Organisationen wie dem Roten Halbmond platziert. Dessen Vizepräsident ist seit einigen Wochen der Taliban-Mitbegründer Nooruddin Turabi. Turabi war Justizminister und Chef der Religionspolizei während der Zeit des ersten Taliban-Regimes zwischen 1996 und 2001. Noch im September sprach er sich für die Wiedereinführung von Körperstrafen wie Amputationen und Hinrichtungen aus. Jetzt sitzt der 62-Jährige mit dem weißen Bart, der als Mudschahed in den 80er-Jahren in den Kämpfen gegen die Sowjets ein Bein und ein Auge verloren hat, in einem Büro des Roten Halbmonds hinter seinem Schreibtisch.

„95 Prozent unserer Bevölkerung haben nicht genügend zu essen“, grummelt er. „Wir haben nicht ausreichend Brot oder Reis oder Tee.“ Ob es denn für Hilfsorganisationen sicher sei, in Afghanistan zu arbeiten? „Natürlich. Ganz Afghanistan ist sicher“, sagt Turabi. Die neuen Herrscher, die so lange dafür gekämpft haben, dass westlicher Einfluss verschwindet, werben offensiv um westliche Unterstützung. Ein deutlicheres Zeichen für die Kata­­s­trophe, die sich am Hindukusch anbahnt, kann es kaum geben.