Berlin. Ukrainischer Botschafter warnt: Noch nie seit 2014 war die Gefahr eines russischen Einmarsches größer als heute. Die Nato ist besorgt.

Was in dem westrussischen Städtchen Jelnja passiert, interessiert derzeit die ganze Welt. Das US-Unternehmen Maxar Technologies hat am 1. November Satellitenbilder aufgenommen, die russische Panzer, Militärfahrzeuge und Gebäude am Nordrand von Jelnja zeigen. Sie befinden sich auf braungrünem Gelände, in der Nähe liegt ein Waldstück.

Zwei Dinge beunruhigen das Pentagon, die Nato und die Regierungen zwischen Paris und Kiew: Soldaten und Ausrüstung wurden erst vor Kurzem dort untergebracht. Und: Der Stützpunkt ist rund 100 Kilometer von der belarussischen und 300 Kilometer von der ukrainischen Grenze entfernt.

Vor allem in Kiew schrillen die Alarmglocken. „Die ukrainischen und die westlichen Nachrichtendienste beobachten seit Tagen eine massive Verstärkung der russischen Truppenkonzentration“, sagte der der ukrainische Botschafter in Deutschland, Andrij Melnyk, unserer Redaktion. „Vor der Ostgrenze der Ukraine und im besetzten Donbass haben die Russen rund 114.000 Soldaten. Auf der okkupierten Krim sind rund 32.000 Kräfte stationiert, auch in Belarus sind es wohl mehrere Tausend.“

Was den Diplomaten zudem nervös macht: „Nach den letzten großen Militärmanövern des Kreml im April und im Herbst haben die Russen schwere Waffen zurückgelassen. Es befinden sich zum Beispiel Artillerie, Panzer, Raketensysteme und Mehrfachraketenwerfer zum großen Teil entlang der Ostgrenze.“ Über 30 taktische Bataillonsgruppen seien knapp 250 Kilometer vor der ukrainischen Grenze in ständiger Alarmbereitschaft. Lesen Sie auch: Der Wasserkrieg um die Krim – Droht ein neuer Konflikt?

Nato-Militärübungen im Schwarzen Meer

In Kiew ist man überzeugt, dass die russischen Manöver nur einen Zweck hatten: „Sie waren darauf ausgerichtet, eine Attacke innerhalb der Ukraine zu trainieren“, sagt Roman Mashovets, Vizedirektor für nationale Sicherheit im Büro des ukrainischen Präsidenten. Kremlchef Wladimir Putin dreht angesichts der Vorwürfe den Spieß um: Die US- und andere Nato-Militärschiffe heizten ihrerseits mit Militärübungen im Schwarzen Meer die Spannungen an.

Nach Berichten der ukrainischen Presse hat sich die Kriegsangst im Land immer weiter hochgeschaukelt. „Wir befürchten, dass es zu einer Krim-Invasion 2.0 kommen kann“, betont Melnyk. „Noch nie seit 2014, als die Russen die Krim und Teile der Ostukraine mit Waffengewalt besetzt haben, war die Gefahr eines neuen, groß angelegten Einmarsches akuter als dieser Tage. Bei uns herrscht Alarmstufe dreimal Rot“, warnt der Botschafter.

In der Nato-Zentrale in Brüssel glühen die Telefondrähte. Generalsekretär Jens Stoltenberg gab sich mit Blick auf die „großen und ungewöhnlichen“ russischen Truppenaufmärsche an der ukrainischen Grenze besorgt. Er rief Moskau auf, „alle weiteren Provokationen oder aggressiven Handlungen“ zu unterlassen. Zuvor hatte US-Außenminister Antony Blinken Russland vor einem Einmarsch in die Ukraine gewarnt – dies wäre ein „schwerwiegender Fehler“. Die Regierungen in Paris und Berlin äußerten sich ähnlich.

Mit Wasserwerfern gegen Migranten

Nach Ansicht der Ukraine steht Moskau hinter dem aktuellen Flüchtlingsdrama. „Die inszenierte Migrantenkrise an der Grenze zu Polen ist auch eine Nebelkerze, um die Militäraktivitäten Russlands vor der Ostgrenze der Ukraine und im Donbass zu verschleiern“, unterstreicht Botschafter Melnyk. In der westlichen Öffentlichkeit solle die Angst vor einer Wiederholung der Flüchtlingskrise von 2015 geschürt werden. „Man rechnet damit, dass die Menschen in Deutschland dann nicht mehr interessiert, dass Putin im Osten eine neue Offensive vorbereitet. Der Kremlchef spekuliert auf einen Abstumpfungseffekt.“

Am Dienstag hat sich die Lage weiter verschärft. Polnische Sicherheitskräfte gingen an der Grenze zu Belarus mit Wasserwerfern gegen Migranten vor. Die Menschen seien von der belarussischen Seite mit Knallgranaten und Tränengas ausgestattet worden, sagte ein Sprecher der polnischen Polizei. Ein Polizist sei von einem Wurfgegenstand verletzt und mit Verdacht auf Schädelbruch ins Krankenhaus gebracht worden.

Am Montag hatte die geschäftsführende Bundeskanzlerin Angela Merkel (CDU) mit dem belarussischen Machthaber Alexander Lukaschenko telefoniert. Bei dem Anruf sei es vor allem um „die Notwendigkeit humanitärer Hilfe“ an der Grenze gegangen, erklärte Regierungssprecher Steffen Seibert. Der Grünen-Außenpolitiker Omid Nouripour kritisierte das Gespräch als „verheerendes Signal“.

„Senden Sie harte Signale an Putin“

Die Ukraine hofft nun, dass die neue Bundesregierung eine härtere Gangart einschlägt. „Wir appellieren an die Spitzen der Ampel-Parteien: Senden Sie harte Signale an Putin, dass er mit seiner Destabilisierungstaktik und seinen Erpressungsversuchen – seien es Gaslieferungen, Migranten oder Truppenverlegungen – keinen Erfolg hat“, so Melnyk. „Das Koalitionsabkommen müsste viel schärfere Sanktionsforderungen wie Embargo von russischen Öl- und Gasimporten beinhalten. Auch Nord Stream 2 als Hauptwaffe des Kreml soll für immer gestoppt werden. Das würde Putin zum Nachdenken bringen.“ Bei den Grünen dürfte der Diplomat damit auf offene Ohren stoßen, aber vermutlich nur dort.