Berlin. RKI-Chef Lothar Wieler verlangt mehr Fairness von Kritikern und erklärt, warum die Impfquote bisher nicht exakt bestimmt werden kann.

Lothar Wieler ist eine der wichtigsten Stimmen in der Coronavirus-Pandemie: Der Präsident des Robert Koch-Instituts hat den Deutschen erst Inzidenz und R-Wert erklärt, später dann gebetsmühlenhaft fürs Impfen geworben. Seit klar wurde, dass die Impfquote deutlich höher liegt, als bislang vom RKI berechnet wurde, wird die Kritik am RKI und seiner Leitung immer lauter. Im Gespräch mit unserer Redaktion fordert Wieler mehr Fairness – und berichtet von massiven Drohungen.

Vor der Pandemie kannte kaum einer das RKI. Jetzt steuern Sie plötzlich die Corona-Politik. Haben Sie sich manchmal überfordert gefühlt?

Lothar Wieler: Die Beratung der Regierung ist unser gesetzlicher Auftrag und nichts Ungewöhnliches. In der Pandemie sind wir natürlich stark in den Fokus gerückt. Durch die massiven Anforderungen, die in kurzer Zeit an uns gestellt wurden, sind wir als Institut an unsere Grenzen gestoßen – personell wie finanziell.

Als RKI-Chef waren Sie im „Team Vorsicht“ und haben immer wieder vor dramatischen Entwicklungen gewarnt. Die Ka­tastrophe ist aber nie eingetreten.

Wieler: Nein, das ist sie nicht. Ich sehe das aber als Erfolg unserer Maßnahmen. Wir wissen ja inzwischen, was passieren kann, wenn man zu wenig tut. Es ist deswegen immer wieder bedauerlich zu sehen, dass dieser Erfolg nicht wertgeschätzt wird. Wir haben die Katastrophe verhindern können, weil wir gegengesteuert haben. Unsere Empfehlungen waren dabei wichtige Leitplanken für die Politik in Bund und Ländern.

Das hat nichts mit „Team Vorsicht“ zu tun, sondern mit meiner Aufgabe: Ich habe als Beamter geschworen, dass ich den Menschen in unserem Land diene. Und als RKI-Präsident habe ich den Auftrag, die Gesundheit der Menschen zu schützen und zu verbessern.

Das RKI musste jetzt einräumen, dass die Impfquote unterschätzt wurde. Warum erfahren wir das erst jetzt – nach der Bundestagswahl?

Wieler: Da muss ich widersprechen. Wir schreiben das ja schon seit Monaten in unseren Berichten. Von dem Moment an, als die niedergelassenen Ärzte beim Impfen eingestiegen sind, konnten wir die Impfquote nicht mehr so genau erfassen wie in den Impfzentren.

Aber erst jetzt sagt das RKI, dass die Quote um bis zu fünf Prozent unterschätzt wurde.

Wieler: Eine ähnliche Zahl stand auch schon im August in einem Studienreport. Und wir können ja nur die Daten auswerten, die uns zur Verfügung stehen. Wir mussten den Meldeverzug durch die Hausärzte und später auch durch die Betriebsärzte erst mal beobachten und einschätzen. Wir wissen ja nicht genau, welcher Arzt zeitnah meldet. Die offiziell gemeldeten Daten sind die Mindestimpfquote. Wir können die tatsächliche Impfquote nur schätzen.

Sie können nicht genau sagen, wie hoch die Quote aktuell ist?

Wieler: Wir können nur sagen, dass bis Ende September bis zu 84 Prozent der Erwachsenen mindestens einmal geimpft wurden und bis zu 80 Prozent vollständig. Wir können nicht sagen, wie hoch die tatsächliche Quote jetzt, Mitte Oktober, ist.

Können Sie verstehen, dass die Gesundheitsminister der Länder deswegen ziemlich sauer aufs RKI sind?

Wieler: Den Ärger über die Meldeprobleme teile ich. Aber die Meldung der impfenden Stellen ist in der Coronavirus-Impfverordnung gesetzlich vorgeschrieben. Sie muss vollständig und zeitnah erfolgen, um den Impffortschritt in Deutschland so genau und aktuell wie möglich abbilden zu können. Es ist unfair, die Schuld auf das RKI abzuwälzen.

Was wollen Sie ändern?

Wieler: Schon vor der Pandemie haben wir mit Arbeiten am elektronischen Meldesystem für den Infektionsschutz Demis begonnen. Seit Sommer 2020 erhalten wir die Sars-CoV-2-Labormeldungen über Demis, Anfang nächsten Jahres wollen wir die Kliniken anschließen. Sobald alle Arztpraxen und Krankenhäuser daran angeschlossen sind, könnte man auch die Impfquoten darüber erfassen.

Lesen Sie auch: Christian Drosten zu Impfquote – Virologe verteidigt RKI

Warum dauert das so lange?

Wieler: Es liegt an Ressourcen, an den vielen unterschiedlichen Abrechnungssystemen, den unterschiedlichen Interessen von Ärzten, Kassen und Kliniken, aber auch am Datenschutz. Wir haben 16 verschiedene Datenschutzbeauftragte in den Ländern, die teilweise sehr unterschiedliche Bewertungen derselben Lage haben.

FDP und Grüne, die voraussichtlich an der nächsten Regierung beteiligt sind, üben massive Kritik. Die FDP wirft ihnen zu große Nähe zur Bundesregierung vor. Das RKI soll künftig nicht mehr dem Bundesgesundheitsminister unterstellt sein. Ist das eine gute Idee?

Wieler: Das ist zu kurz gedacht. Wir sind eine wissenschaftlich unabhängige Institution. Aber unser Auftrag als Bundesbehörde ist es gerade, das Gesundheitsministerium zu beraten. Die enge Zusammenarbeit mit dem Ministerium ist dafür wichtig: Wäre das RKI völlig losgelöst wie ein Max-Planck-Institut, dann hätten wir überhaupt nicht den Hebel, die gesundheitspolitischen Vorhaben fachlich so intensiv zu beraten.

Wehrt sich gegen Kritik an seiner Arbeit: RKI-Präsident Lothar Wieler im Hörsaal des Robert-Koch-Instituts.
Wehrt sich gegen Kritik an seiner Arbeit: RKI-Präsident Lothar Wieler im Hörsaal des Robert-Koch-Instituts. © picture alliance / photothek | Thomas Imo

Die Grünen werfen Ihnen eine Mitverantwortung an den langen Schulschließungen vor. Sie hätten Kinder zu lange als Infektionstreiber betrachtet.

Wieler: Wir haben öffentlich betont, dass Kinder keine Treiber der Pandemie sind. Vielmehr zielen unsere Empfehlungen darauf ab, Schulen zu einem sicheren Ort zu machen und Schulschließungen zu vermeiden. Es kommt immer darauf an, was vor Ort aus unseren Empfehlungen gemacht wird.

Auch bei der Wirksamkeit der Impfung musste das RKI die Werte korrigieren, sie liegen nun etwas niedriger. Gibt es noch andere Werte, bei denen Sie demnächst genauer sein werden?

Wieler: Wir mussten die Daten nicht korrigieren, wir haben die Methodik zur Messung der Wirksamkeit optimiert. Generell können wir nur mit den Daten arbeiten, die wir haben. Nehmen Sie die Zahlen zum Impfstatus der hospitalisierten Patienten. Auch hier gibt es einen Meldeverzug. Man sieht hier ganz klar die Schwächen bei der Digitalisierung des deutschen Gesundheitssystems.

Angesichts einer Impfquote unter Erwachsenen von rund 80 Prozent werden die Rufe nach einem Freedom Day lauter. Bei welcher Lage können alle Maßnahmen enden?

Wieler: Das Impfziel ist: Mindestens 85 Prozent der 12- bis 59-Jährigen und mindestens 90 Prozent der über 60-Jährigen sollten vollständig geimpft sein. Das ist noch nicht erreicht. Doch selbst dann, wenn diese Quoten erreicht sind, sollten die Basismaßnahmen bis zum nächsten Frühjahr durchgehalten werden. Das heißt: In möglichst vielen Innenräumen sollten weiter Abstandsregeln und Maskenpflicht gelten. Die bereits eingeführten 3G- und 2G-Regeln sollten ebenfalls fortgesetzt werden.

Wir sehen doch in Großbritannien, was passiert, wenn man alle Maßnahmen fallen lässt: Hier ist die Zahl der Corona-Toten nach dem Freedom Day massiv gestiegen.

Das RKI bleibt, der Gesundheitsminister wird wohl wechseln. Haben Sie einen Wunsch?

Wieler: Ich habe keinerlei personelle Wünsche. Das Robert-Koch-Institut sollte aber künftig die Unterstützung bekommen, die es braucht.

Wie geht es Ihnen persönlich? Bekommen Sie noch Drohungen?

Wieler: Ich wünschte, die Lage wäre angenehmer, aber ich bekomme immer noch Drohungen. Wenn zum Beispiel in den Medien behauptet wird, ich sei dafür verantwortlich, dass Schulen geschlossen werden, oder wenn irgendwo steht „Wieler fordert Lockdown statt Freiheit“, dann nehmen die Drohungen – auch die Morddrohungen – massiv zu. Das hindert mich aber nicht an meiner Arbeit.

Sollte es einem Menschen gelingen, mich daran zu hindern, indem er mir Schaden zufügt, wäre das bitter für mich und meine Familie. Das Risiko hält mich aber nicht ab von meiner Pflicht. Solange ich Beamter dieses Staates bin, werde ich ihm verantwortungsvoll dienen.