Warum die Frage der Kinderimpfung ein Fall von eingebildeter Dringlichkeit ist, erklärt unser Politik-Korrespondent Miguel Sanches.

Es kommt, wie es kommen musste. Weil sich die Ständige Impfkommission (Stiko) mit einer Empfehlung Zeit lässt, sind Bund und Länder dabei, Fakten zu schaffen. Sie wollen allen Zwölf- bis 17-Jährigen Vakzine gegen Covid-19 anbieten.

Das ist erst einmal hilfreich und – nebenbei gesagt – kein Sonderweg. Andere Staaten verhalten sich ähnlich, die USA, Kanada oder Israel. Es scheint aber, dass nur in Deutschland aus einer Sachfrage eine Kraftprobe gemacht wurde.

Die Politik strebt eine Herdenimmunität an. Die dazu notwendige Impfquote von 85 Prozent ist ohne Kinder und Jugendliche kaum erreichbar. Politiker setzen Prioritäten. In der Praxis sind das nicht selten 51-zu-49-Entscheidungen. Einwände werden danach schnell ignoriert und relativiert, die Bedenkenträger an den Rand gedrängt.

Eine „Außenseiterposition“ nennt der SPD-Politiker Karl Lauterbach die Haltung der Stiko, die sich „verrannt“ habe. Das sind die rhetorischen Kniffe der Machtpolitik.

Regierung hätte gerne die Glaubwürdigkeit der Stiko

Macht ist: anderen seinen Willen aufzuzwingen. Die Stiko sollte eingespannt werden, denn sie ist unabhängig, parteifern und wissenschaftlich orientiert. Kurzum: Sie hat die Glaubwürdigkeit, die sich Bund und Länder gern geborgt hätten. Erst haben sie es mit sanftem Druck versucht, danach unverhohlen und öffentlich, jetzt folgt die offene Brüskierung eines Gremiums, das Skrupel zur vermeintlichen Unzeit pflegt.

Miguel Sanches, Politikkorrespondent.
Miguel Sanches, Politikkorrespondent. © FUNKE Foto Services | Reto Klar

Für die Gesamtbevölkerung wäre es besser, die Impfquote zu erhöhen. Aber die Stiko muss auch auf den Nutzen für den einzelnen Menschen schauen. Von den rund 14 Millionen Kindern und Jugendlichen in Deutschland mussten bis April etwa 1200 mit einer Sars-CoV-2-Infektion im Krankenhaus behandelt werden – vier starben an einer Infektion.

Die Deutsche Gesellschaft für Pädiatrische Infektiologie hat mit diesen Zahlen damals zugleich in Erinnerung gerufen, wie viele Kinder in der Saison 2018/19 an Influenza gestorben sind, nämlich neun, wie viele 2019 im Straßenverkehr getötet wurden – 55 – und wie viele nach Angaben der DLRG ertrunken waren: 25.

Angesichts dieser Zahlen fragt man sich, was unverhältnismäßiger ist: das Zögern der Stiko oder der politische Druck?

Das Risiko von Kindern, an Covid-19 schwer zu erkranken, ist überschaubar, die Gefahren durch Long Covid, aber auch durch langfristige Nebenwirkungen der mRNA-Vakzine sind es nicht. Es gibt in der Gesamtrechnung Ungewissheiten. Sie erklären, warum die Stiko noch zögert und nach der Devise „Gründlichkeit geht vor Schnelligkeit“ verfährt.

Es wäre sinnvoller, mehr Erwachsene zur Impfung zu bewegen

Die Risikoabwägung fällt bei einem ungleich gefährdeten 60-Jährigen leichter als bei einem Zwölfjährigen. Bei einem älteren Menschen ist zu erwarten, dass sie schwer am Virus erkranken, wohingegen über potenzielle Schäden der Impfung keine Gewissheit besteht.

Es wäre sinnvoller, sich darauf zu konzentrieren, möglichst alle Erwachsenen zu einer Impfung zu bewegen. Hinzu kommt, dass sich die Meldungen häufen, dass auch Geimpfte größtenteils das Virus weitergeben. Wenn Jugendliche das Virus als Geimpfte weitergeben können und selten schwer an Covid-19 erkranken, dann fragt man sich, warum ihrer Impfung eine geradezu schicksalhafte Bedeutung beigemessen wird. Lesen Sie auch: Geimpft und trotzdem Superspreader – Warum das möglich ist

Der St aat bietet die Impfstoffe an, bei ihm bleibt auch die Haftung. Die Verantwortung aber tragen die Eltern und die Jugendlichen. Es bleibt auch dann eine persönliche Entscheidung, wenn eine Stiko-Empfehlung vorliegt.

Es wäre dringlicher, die Drittimpfung für ältere Menschen zu organisieren, bei denen die Wirksamkeit der Erstimpfung nachlässt. Die Frage der Kinderimpfung hätte nie zu einer Kraftprobe werden dürfen. Es ist ein Fall von eingebildeter Dringlichkeit.