Berlin. Boris Johnson will Großbritannien die Freiheit zurückgeben. Er riskiert die Gesundheit vieler. Denn neue Varianten könnten entstehen.

Der 19. Juli wird für England der Tag der Freiheit – Freedom Day. So will es der konservative Premierminister Boris Johnson und sein Gesundheitsminister Sajid Javid gibt ihm Schützenhilfe. Man müsse lernen, mit dem Virus zu leben, sagte Javid im Radiosender BBC 4 unlängst. Die Formulierung tauchte am Montag wortwörtlich auch in einer Pressemitteilung der britischen Regierung auf, in der Johnson klar stellt, dass es im Umgang mit Coronavirs nun auf eigenverantwortliches Handeln ankäme.

Dabei ist der britischen Regierung vollkommen klar, was der Freedom Daydie fast vollständige Rücknahme aller Corona-Regeln in England – für das Land bedeuten kann. "Wenn wir lockern und in den Sommer starten, erwarten wir einen deutlichen Anstieg, die Zahl der Fälle könnte auf bis zu 100.000 (täglich) steigen", sagte der Gesundheitsminister in der BBC.

Johnson, Javid und die regierende Tory-Partei gehen also ganz bewusst ein großes Risiko ein und vertrauen beim angepeilten Leben mit dem Virus auf die britische Impfkampagne. Die habe den Link zwischen Corona-Infektion und Tod gebrochen, begründete der Premierminister schon Anfang Juli seinen Lockerungskurs – ein Kurs, der nicht nur die Gesundheit vor allem der jungen Menschen im Vereinigten Königreich riskiert, sondern England in ein potentiell hochgefährliches Varianten-Labor ohne Sicherheitsschleusen verwandeln kann.

Impfungen in England: Die Zahlen lesen sich gut

Die Zahlen der Impfkampagne scheinen Johnson aber erst einmal Recht zu geben: Rund 65 Prozent der erwachsenen Bevölkerung sind vollständig geimpft, jeden Tag kommen 160.000 Zweitimpfungen dazu. Knapp 46 Millionen Britinnen und Briten haben zumindest eine erste Impfung erhalten, wie aus dem Corona-Dashboard (Stand Freitag, 9. Juli) der Regierung hervorgeht. Die Herdenimmunität der britischen Bevölkerung, sie scheint nur noch ein paar Millionen Spritzen entfernt.

Dennoch schlägt der Regierung Johnson lautstarke Kritik entgegen, von der Opposition im Parlament, von Angehörigen von Covid-Toten und aus der Wissenschaft. Labour-Oppositionsführer Keir Starmer etwa warf Johnson bei einer Fragestunde am Dienstag Rücksichtslosigkeit vor.

"Rücksichtslos": Keir Starmer (vorne, 2.v.r), Vorsitzender der Labour-Partei, spricht im britischen Unterhaus während der Fragestunde "Prime Minister's Questions". © PA Wire/dpa | House Of Commons

Der Harvard-Immunologe Eric Feigl-Ding schlug am Donnerstag bei Twitter die Hände über dem Kopf zusammen, erinnerte die Regierung daran, dass – trotz Impfungen – in England derzeit Hospitalisierungen in Intensivstationen sowie Todeszahlen steigen und teilte ein Video, in dem WHO-Krisenmanager Mike Ryan die Politik der Regierung Johnson unumwunden als "moralisch leer und epidemiologisch dumm" betitelte.

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Corona in England: "Durchseuchung ist keine Option"

Und Feigl-Ding ist nicht die einzige mahnende Stimme in Großbritannien. Forschende von verschiedenen Universitäten und Forschungseinrichtungen im Land veröffentlichten am Dienstag einen Leitartikel im Fachblatt "Lancet" unter dem Titel: "Durchseuchung ist keine Option: Wir müssen mehr zum Schutz junger Menschen tun".

Auch auf den britischen Inseln sind die Vakzine überwiegend für die Erwachsenen freigegeben, was dazu führt, dass das Virus unter den Jungen grassiert, während die Älteren im EM-Rausch auf Masken und Abstandhalten pfeifen.

England-Fans vor dem Achtelfinalspiel gegen die deutsche Mannschaft: Pfeifen auf Maske und Abstandsregeln.
England-Fans vor dem Achtelfinalspiel gegen die deutsche Mannschaft: Pfeifen auf Maske und Abstandsregeln. © dpa | Christian Charisius

Wie dringend derweil in England der Schutz von Kindern und Jugendlichen vor Corona in den Fokus genommen werden sollte, lässt sich ebenfalls an Covid-Zahlen der Regierung ablesen. Die Sieben-Tage-Inzidenz unter den zehn bis 14-Jährigen etwa stieg im Nordwesten Englands und der Metropolregion Liverpool auf um die 1000 Fälle pro 100.000 Einwohnenden. Bei den 15 bis 19-Jährigen sieht es ähnlich verheerend aus. In den folgenden – geimpften – Alterskohorten derselben Region werden die Inzidenz-Werte dagegen schnell bedeutend besser.

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Und nicht nur um und in Liverpool, sondern auch in anderen Landesteilen ziehen die Inzidenzen unter jungen Menschen an. Covid-19 droht, so scheint es, eine Kinderkrankheit zu werden.

Das zeigt auch ein am Freitag vom britischen Statistikamt veröffentlichter Datensatz. Demnach wurden zwischen dem 23. Mai und dem 3. Juli vor allem Menschen im Alter von zwei bis 24 Jahren positiv auf eine Corona-Infektion getestet. Die Zahlen stiegen für Grund- und Mittelschüler nach Pfingstferien Ende Mai deutlich an.

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Zwar können Kinder und junge Menschen mit einem vergleichsweise milden, oder sogar symptomfreien Verlauf einer Covid-Erkrankung rechnen. Möglich sind aber auch schwere Verläufe inklusive einer Behandlung im Krankenhaus. Zudem sind auch Kinder immer wieder von den als "Long Covid" bezeichneten Langzeitfolgen einer Corona-Infektion betroffen.

So argumentieren denn auch die Forschenden im "Lancet" zuvorderst mit dem Schutz der Jüngeren gegen Johnsons Lockerungskurs: "Eine ungehinderte Ausbreitung (des Virus, d. Red.) wird unverhältnismäßig Kinder und junge Menschen betreffen, die bereits viel gelitten haben", schreiben sie. Hohe Übertragungsraten in Schulen und unter Kindern würden zudem dazu führen, dass die Schulbildung junger Menschen weiter leide.

England und Corona: Johnson wagt ein gefährliches Experiment

Die Wissenschaftler weisen außerdem darauf hin, dass die hohe Übertragungsrate der auch in Großbritannien vorherrschenden Delta-Variante – zusammen mit Millionen weiterhin Ungeimpften – das exponentielle Wachstum der Infektionen vorantreiben könnte, "bis weitere Millionen Menschen infiziert sind".

Welche Folgen das weit über das Vereinigte Königreich hinaus haben kann, machen die Forschenden ebenfalls klar. "Vorläufige Daten legen den Schluss nahe, dass die Strategie der Regierung der Entstehung neuer Impfstoff-resistenter Virusvarianten einen fruchtbaren Boden bereitet", schreiben sie und stellen fest: "Dies wäre für alle, auch die Geimpften, riskant, nicht nur im Vereinigten Königreich, sondern weltweit."

Ihre Befürchtung ist, dass unter den Infizierten im Land das Virus so lange mutiert, bis eine Variante entsteht, gegen die bisherige Impfstoffe nicht mehr oder nur stark vermindert schützen. So kann der Kurs der Regierung Johnson schließlich auch zur Gefahr für die Weltbevölkerung werden.

Die Anpassung der Vakzine aber benötige Zeit, und die Verbreitung einer solchen Mutation benachteilige vor allem jene, die ohnehin benachteiligt seien: wirtschaftlich schwache Menschen, Regionen und Staaten. "Diese Politik wird fortwährend jene betreffen, die am verwundbarsten sind, die am Rand der Gesellschaft stehen, und damit zur Ungleichheit beitragen", schreiben die Forschenden im "Lancet" und urteilen: "Wir glauben, dass die Regierung ein gefährliches und unethisches Experiment wagt und fordern sie auf, die Lockerungspläne für den 19 Juli auf Eis zu legen."