Washington. . Mehr Gewehre, mehr Opfer: Waffengewalt wird in den USA ein immer größeres Problem. Warum 2021 ein tödliches Rekordjahr werden könnte.

Das Corona-Virus ist auf dem Rückzug in Amerika. Das andere - namens Schusswaffen-Gewalt - breitet sich so dramatisch aus wie seit Jahrzehnten nicht. Statistisch gesehen sterben jeden Tag zwischen 50 und 60 Menschen in den USA durch Schusswaffen, darunter vier Kinder und Jugendliche. In den ersten fünf Monaten des Jahres waren es nach Erhebungen des oft zitierten „Gun Violence Archive” (GVA) über 8100 Tote. Tendenz steigend, auch weil die Zahl der Waffenkäufe förmlich durchs Dach geht.

Mark Bryant, GVA-Gründer, erwartet für die Sommer-Monate das Schlimmste: „Ich fürchte mich zu Tode, ehrlich. Ich erwarte, dass es ein Rekord-Jahr wird.” Junge Menschen aus benachteiligten Schichten seien besonders gefährdet, weil tagesstrukturierende Fixpunkte (Schule, Sozialprogramme und Sport-Angebote) in der Corona-Zeit eingestellt wurden.

Waffengewalt: Bereits 2020 das tödlichste Jahr

Dabei war schon 2020 laut Polizei-Statistiken das tödlichste Jahr der vergangenen zwei Dekaden. In Städten mit mehr als einer Million Einwohnern stieg die Zahl der „homicides” im Durchschnitt um über 30 Prozent. Zu allem Überfluss macht die Bundespolizei FBI im ersten Halbjahr 2021 einen Anstieg von weiteren 25 Prozent aus.

Chicago verzeichnete bis Mai rund 200 Morde - knapp 40 Prozent mehr als im Vorjahreszeitraum. In New York sind in 2021 bisher rund 450 Schießereien mit Toten und Verletzten gemeldet worden - 85 Prozent mehr als zum gleichen Zeitpunkt des vergangenen Jahres. In Portland/Oregon und Tucson/Arizona stieg die Mordrate um rund 80 Prozent. Auch in Los Angeles/Kalifornien, Columbus/Ohio oder Philadelphia/Pennsylvania melden die Bürgermeister „desaströse Zahlen”.

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In Minneapolis, der Stadt, die durch die Tötung des Schwarzen George Floyd im Mai 2020 durch einen weißen Polizisten weltweit Schlagzeilen schrieb, stieg die Zahl der Mord-Delikte zwischen Dezember 2020 und März 2021 um 46 Prozent. Dass der Fall Floyd eine Zäsur darstellt, lässt sich am besten in Chicago beobachten. Von Mai 2019 bis Mai 2020 zählte die Stadt am Michigan See 2885 Schießereien (521 Tote). Von Mai 2020 bis Mai 2021 wurden 4562 Schießereien aktenkundig (818 Tote) - rund 60 Prozent Anstieg in beiden Kategorien.

Auch "mass shootings" nehmen in den USA zu

Die Misere schlägt sich auch in der Zunahme von „mass shootings” nieder. Tragödien, bei denen nach akzeptierter Definition vier oder mehr Menschen getötet werden, haben sich zwischen März und Mai 2021 so gehäuft wie seit Mitte der 60er Jahre nicht mehr, berichtet das „Violence Project”, eine weitere Forschungsstelle. Bei schlagzeilenträchtigen Gewaltausbrüchen in Georgia, Colorado, Kalifornien und Indiana kamen 39 Menschen ums Leben. Insgesamt wurden in diesem Jahr bereits rund 260 „mass shootings” registriert, 2020 waren es 610.

Bei der Ursachenforschung kommen Praktiker, Politiker und Kriminologen auf ein ganzes Bündel. Gemeinsamer Nenner: „Viele Leute haben sehr viel Angst. Und viele Leute haben sehr viele Waffen.” Danach hat Corona die psychische Gesundheit und Stabilität des Landes massiv angegriffen. „Bei vielen Amerikanern liegen die Nerven blank”, sagen Forscher von Polizeiakademien. Und zu den durch die Pandemie nochmals verschärften sozialen Ungleichgewichten in vielen Metropolräumen, traditioneller ein Beschleuniger von Schusswaffen-Gewalt, komme der extreme Anstieg bei den Waffenkäufen.

Waffen in den USA: Zehn Millionen Erstkunden

Allein im vergangenen Jahr wurden nach offiziellen Statistiken 23 Millionen Schießeisen verkauft - 65 Prozent mehr als 2019. Amerikas Privathaushalte verfügen damit amtlich geschätzt über rund 400 Millionen Pistolen und Gewehre. Im ersten Quartal 2021 zeigten die „gun sales” noch mal steil nach oben. Allein im Januar gingen 2,5 Millionen Waffen über die Ladentheke. Wissenschaftliche Untersuchungen belegen seit Langem, dass „mehr Waffenkäufe fast automatisch zu mehr Waffengewalt führen”.

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Um welche Dimensionen es sich dabei handelt, zeigt der Branchen-Riese Smith & Wesson. Zum ersten Mal in der fast 170-jährigen Geschichte der Waffenschmiede aus Springfield/Massachusetts überstiegen die Umsätze die Milliarden-Grenze. Im abgelaufenen Geschäftsjahr (April 2020 bis April 2021) machte Smith & Wesson knapp eine Viertelmilliarde Dollar Gewinn und konnte so sämtliche Schulden abtragen.

CEO Mark Smith bestätigt, was Kriminologen beunruhigt: Der Drang, sich zu bewaffnen, hat neue Bevölkerungsschichten erreicht. Smith geht von zehn Millionen Erstkunden aus, darunter viele Frauen und Angehörige von gesellschaftlichen Minderheiten wie Asiaten und Afro-Amerikaner, die sich bedroht fühlten. Nicht zuletzt durch ein in den Jahren der Präsidentschaft Donald Trumps öffentlich extrem polarisiertes Klima, das sich am 6. Januar mit tödlicher Gewalt bei der versuchten Erstürmung des Kapitols zeigte.

USA verlieren immer mehr Polizeibeamte

Die „Defund the Police”-Bewegung, die nach dem Tod von George Floyd Steuergeld von der Polizei weg in die Sozialarbeit verlagert wissen will, habe ihren Anteil an der prekären Situation, heißt es in Sicherheitskreisen. In vielen der knapp 18.000 Polizei-Direktionen gehen Beamte früher in Pension, meldeten sich krank oder kündigten. New York City allein verlor 2020 so über 5000 „Cops”. Nachwuchs zu rekrutieren, räumte der scheidende Bürgermeister Bill de Blasio ein, „wird immer schwieriger”.

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    Das führt nach Recherchen des pensionierten Richters Paul Cassell zu einer eklatanten Abnahme von Polizeipräsenz- und Kontrollen auf der Straße - und zu noch mehr Gewalt. Präsident Joe Biden will sich am Mittwoch zum ersten Mal ausführlich zum Thema Waffen-Gewalt äußern.