Berlin. Moderatorin Will und Politiker blamieren sich mit Gezänk um das neue Infektionsschutzgesetz. Nur ein Medizin-Professor redet Klartext.

  • Bei "Anne Will" ging es um die aktuelle Corona-Situation
  • Doch diese Zeit hätte der Fernsehzuschauer besser investieren können
  • Denn die Runde versagte komplett, was auch an der Moderatorin lag

Nach ihrem komplett vergeigten Einzel-Interview mit der Bundeskanzlerin hatte Anne Will drei Wochen Zeit, ihre Form wiederzufinden. Leider gelang ihr das nicht: Das Comeback ihres Sonntagabend-Talks im Ersten nach dreiwöchiger Osterpause zum Ringen um die Bundes-Notbremse war erneut ein Totalausfall.

Die Diskussion war vom Start weg konfus und ohne Autorität geführt. Kein einziges Thema wurde stringent verfolgt, die Debatte verzettelte sich im pandemischen Nirvana. Der prominenteste Talk-Sendeplatz der ARD hätte eine bessere Moderation verdient. Einziger Lichtblick: der aus Köln zugeschaltete Intensivmediziner Michael Hallek, der das Dilemma der deutschen Corona-Politik eindrucksvoll auf den Punkt brachte. Lesen Sie auch: Anne Will verpasst Chance – Merkel kritisiert Laschet

Das waren die Gäste bei "Anne Will":

  • Peter Altmaier (CDU), Bundesminister für Wirtschaft und Energie
  • Michael Müller (SPD), Regierender Bürgermeister von Berlin, Vorsitzender der Ministerpräsidentenkonferenz
  • Katrin Göring-Eckardt (Bündnis 90/Die Grünen), Fraktionsvorsitzende im Bundestag
  • Christian Lindner (FDP), Parteivorsitzender und Fraktionsvorsitzender im Bundestag
  • Michael Hallek, Direktor der Klinik I für Innere Medizin der Uniklinik Köln
  • Melanie Amann, Leiterin des "Spiegel"-Hauptstadtbüros

Viele Zuschauer dürften überrascht gewesen sein: Nicht etwa der Krimi um die Kanzlerkandidatur der Union stand im Mittelpunkt des Sonntagabend-Talks im Ersten, sondern das noch gar nicht endgültig beschlossene geänderte Infektionsschutzgesetz. Allerdings war das Duell zwischen Armin Laschet und Markus Söder bereits unter der Woche in etlichen TV-Diskussionen behandelt worden, weswegen frische Gesprächspartner und neue Ansätze für eine Debatte offenbar Mangelware waren. So ging es um eine weitere große Unvollendete der Hauptstadtpolitik – die Rezeptur für die Pandemiebekämpfung in den kommenden Wochen und Monaten. Lesen Sie hier: Zank um eine Zahl: Was Sie zur Inzidenz wissen müssen

"Anne Will" knüpfte an das Interview mit Angela Merkel an

Mit ihrer Sendung knüpfte die Moderatorin thematisch dort an, wo sie sich am 28. März in die Osterpause verabschiedet hatte. Im Interview mit ihr hatte Angela Merkel bereits angedeutet, dass sie den Widerstand einiger Länder gegen eine Verschärfung der Lockdown-Bestimmungen nicht weiter hinzunehmen bereit sei: "Ich werde dem jetzt nicht 14 Tage tatenlos zusehen."

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    Genau genommen hat die Bundeskanzlerin aber genau das getan: Mehr als neue Maßnahmen anzukündigen, vor allem die viel diskutierte nächtliche Ausgangssperre, ist seither nicht geschehen. Die für den 12. April vorgesehene Ministerpräsidentenkonferenz mit dem Kanzleramt war zudem ersatzlos abgesagt worden.

    Anne Will – Mehr Infos zur Talkshow & Moderatorin

    Zu der Frage "Streit um die 'Bundes-Notbremse' – lässt sich die dritte Welle so brechen?" hatte die Redaktion von "Anne Will" prominente Vertreter der Parteien aufgeboten: Bundeswirtschaftsminister Peter Altmaier, die Grünen-Fraktionsvorsitzende Katrin Göring-Eckardt, FDP-Chef Christian Lindner und Berlins Regierenden Bürgermeister Michael Müller von der SPD. Außerdem in der Runde: "Spiegel"-Hauptstadtbüroleiterin Melanie Amann als Quoten-Journalistin und Medizin-Professor Michael Hallek von der Uniklinik Köln. Für Anne Will ging es auch um Wiedergutmachung: Im Gespräch mit der Kanzlerin hatte die Talkerin überfordert gewirkt und die an diesem Abend große Chance vertan, einer entnervten Kanzlerin klare Aussagen zu entlocken. Mehr zum Thema: Alltag mit Angst und Stress: Darum macht Corona aggressiv

    Moderatorin führt einen Kampf gegen die Uhr

    Statt gleich zur Sache zu kommen, startete die Moderatorin mit einer Live-Schalte zu ARD-Kollegin Tina Hassel. Die Hauptstadt-Korrespondentin berichtete von den jüngsten Ereignissen im Kandidatenduell der Union, versicherte zugleich, dass an diesem Sonntag ganz sicher keine Entscheidung verkündet werden würde – "Anne Will" macht auf "Tagesthemen", das immerhin war mal etwas Neues.

    Die Sendezeit hätte besser genutzt werden können, denn fortan schien die Moderatorin einen Kampf gegen die Uhr zu führen, unterbrach ihre Gäste oder redete im Stil einer Simultan-Dolmetscherin aus dem Off gleichzeitig mit ihren Gästen. Keiner der geladenen Politiker erhielt die Gelegenheit, einen Gedanken zu Ende zu führen. Auch interessant: Corona: Wann Sie in Ihrem Unternehmen geimpft werden können

    Das Gäste-Ensemble aus CDU, SPD, Grüne und FDP konnte einem beinahe leidtun, denn der Gesamteindruck auf das TV-Publikum war verheerend. Mitten in der Pandemie war keine Geschlossenheit oder die Entschlossenheit zu einem gemeinsamen Kraftakt erkennbar. Der Streit um die Sinnhaftigkeit von Maßnahmen, die Umsetzbarkeit und die Berücksichtigung von Einzelinteressen dominierte die Diskussion – ein Zwist, den die Moderatorin mit kleinteiligen Einwürfen und plumpen Fragen noch verstärkte.

    Warum habe die Kanzlerin "nicht Wort gehalten", als sie eine rasche Änderung des Infektionsschutzgesetzes ankündigte, wollte Will wissen. Peter Altmaier reagierte genervt: "Die Regierung kann doch die Regeln der Demokratie und des Grundgesetzes nicht außer Kraft setzen." Anne Will: "Aber sie kann telefonieren."

    Bundes-Notbremse droht zu scheitern

    Die "Bundes-Notbremse", so viel wurde immerhin deutlich, hat in der vorliegenden Form keine allzu guten Aussichten auf Erfolg. FDP-Chef Lindner sprach von einem "sehr sensiblen Eingriff in die Grundrechte der Menschen" und warf die Frage auf, ob Regelungen wie eine allgemeine rechtliche Ausgangssperre im Falle von Klagen überhaupt "verfassungsfest" seien.

    Auch die Grünen-Fraktionsvorsitzende im Bundestag sah "erheblichen Nachbesserungsbedarf am Gesetz" und bemängelte, dass dieses die "Arbeitswelt nach wie vor nicht anfasse". Es gebe, so Katrin Göring-Eckardt, keine rechtsverbindlichen Vorgaben für Unternehmen, ihre Mitarbeiter zu testen. Diese könnten aus "betrieblichen Gründen" abgelehnt werden: "Das Gesetz ist hier zu lasch."

    Bundeswirtschaftsminister Peter Altmaier mit Moderatorin Anne Will.
    Bundeswirtschaftsminister Peter Altmaier mit Moderatorin Anne Will. © NDR/Wolfgang Borrs

    Eigentlich eine Steilvorlage an die Moderatorin, den Bundeswirtschaftsminister mit der ihn betreffenden Kritik zu konfrontieren. Aber Will verpasste den Moment. Berlins Bürgermeister Müller mahnte eine Politik mit Augenmaß an: In den Problemvierteln der Hauptstadt herrschten alarmierende Zustände. Kinder hätten dort seit Monaten keine Schule mehr besucht. Die Menschen lebten in beengten Verhältnissen. Nichts Neues, und doch ist es dramatisch. Die Jugendämter warnen bereits vor einer Verdopplung der Schulabbrüche.

    Altmaier erklärt, die Regierung sei bereit zu handeln, "wo sich eine Notwendigkeit ergibt". Göring-Eckardt forderte "nationale Testwochen" im Mai, Lindner verwies auf das "Fehlen einer nationalen Teststrategie". Will ruft: "Melanie!" und hofft auf Unterstützung durch die Kollegin vom "Spiegel". Die gibt irgendwann zu: "Jetzt habe ich den Faden verloren." Es ist symptomatisch für die Diskussion.

    Die Grünen-Fraktionschefin im Bundestag: Katrin Göring-Eckardt kritisiert die Pandemiebekämpfung der Bundesregierung.
    Die Grünen-Fraktionschefin im Bundestag: Katrin Göring-Eckardt kritisiert die Pandemiebekämpfung der Bundesregierung. © NDR/Wolfgang Borrs

    Was aber ist konkret zu tun? Gute Frage, nächste Frage.

    Der wirre Diskurs der Parteivertreter wäre vollends abgeglitten. Doch da war ja noch Michael Hallek. Der Vertreter ist Professor an der Uni-Klinik Köln. Schon zu Beginn der Sendung hatte Hallek eindrucksvoll von seinen Visiten auf den Intensivstationen berichtet. Von "Patienten, die um ihr Leben kämpfen oder Angst haben, dass sie keine Luft mehr bekommen". 50 bis 60 solcher Fälle sehe er jede Woche.

    Der Arzt appellierte an die Parteienvertreter: "Wir haben keine Zeit für ein Gesetzgebungsverfahren, das in drei Wochen noch nicht entschieden ist." Schließlich warnten die Mediziner seit Anfang Januar vor der Entwicklung auf den Intensivstationen, die sich jetzt zeige. Lesen Sie hier: Triage-System: So entscheiden Ärzte über Leben und Tod

    Intensivmediziner ruft Politiker zu Solidarität auf

    Halleks kritisiert grundsätzlich: "Die Politik sollte erst einmal ein Ziel definieren, wo sie hinwill." In den Kliniken machten sich Zweifel an der parlamentarischen Demokratie und ihren Institutionen breit, dass diese "nicht mehr in der Lage sind, die Pandemie in den Griff zu bekommen". Der Klinik-Direktor: "Pandemiebekämpfung ist ein Gesamtkunstwerk." Ein deutlicher Seitenhieb auch auf die zerstritten wirkenden Politiker im Studio und ein Aufruf zur Solidarität der Parteien im Wahlkampfjahr. Auch interessant: In diesen Ländern bekommen Deutsche jetzt die Corona-Impfung

    Notwendig sei ein konsequenter Lockdown nach britischem Vorbild, eine "nationale Kraftanstrengung" für "ein oder zwei Monate", sagte der Professor. "Die wesentliche Freiheitsbeschränkung erfolgt durch das Virus und nicht durch einzelne Maßnahmen."

    Anne Will - So liefen die vergangenen Sendungen

    Ob die für diese Woche angestrebte Einigung auf eine Novelle des Infektionsschutzgesetzes allerdings kommt, ist unklar. Ebenso unklar ist, ob die Bundes-Notbremse überhaupt umgesetzt wird. Das geplante Gesetz sei "verfassungsrechtlich höchst angreifbar". So sieht es zumindest FDP-Chef Lindner.

    Wirtschaftsminister Altmaier beklagte, dass alles von "beiden Seiten angegriffen" werde, was die Regierung an Vorschlägen präsentiere: "Ich stelle fest, dass das Spiel einfach nur so geht." Nach einer Stunde "Anne Will" waren die Teilnehmer vom Konsens genauso weit entfernt wie zu Beginn. Vor dem Hintergrund der Pandemie ist das zu wenig für die Politik, aber auch zu viel wenig für das angebliche Königsformat der ARDTalkshows.