Tokio/Fukushima. Mit dem Beginn des Fackellaufs wird „Tokio 2020“ kaum noch aufzuhalten sein. Aber: Wozu diese in der Pandemie gefährlichen Spiele?

Umzingelt von Kameras und Zuschauern am Straßenrand macht die Fackel ihre ersten Schritte in Richtung Gastgeberstadt. Hunderte Promis, wohltätig Engagierte, Nachwuchs- oder Ex-Sportler tragen diesen brennenden Stab ein paar Meter weiter. Hauptsache das olympische Feuer geht durch viele Hände und quer durchs Land: Normalerweise bricht spätestens zu diesem Zeitpunkt ein nationales Olympiafieber aus.

In Japan, dem Austragungsort von Olympia 2020 – die Spiele wurden im vergangenen Jahr wegen Corona auf dieses Jahr verschoben – ist beim Start des Fackellaufs von Fieber wenig zu spüren. Zuschauer sind pandemiebedingt nicht zugelassen im symbolträchtigen Fukushima, das vor zehn Jahren nach einem Atomunfall teilweise zerstört wurde. Und dann fällt auch noch der Strom aus und behindert den Beginn der Liveübertragung, der doch mindestens die öffentliche Haltung zu den Spielen verbessern sollte.

Wegen Corona: Japaner sind gegen die Austragung der Olympischen Spiele

In den kommenden Wochen geht es also 9600 Kilometer durch alle 47 Präfekturen des Landes: Über das subtropische Okinawa im Süden und das kühle Hokkaido im Norden sollen Träger die Fackel am Abend des 23. Juli ins Tokioter Olympiastadion bringen. Dort wird mit ihr dann das olympische Feuer entzündet – die Spiele von Tokio wären damit eröffnet.

Doch die olympische Stimmung im Land ist auf dem Tiefpunkt: Mehrere japanische Gebiete stecken erneut im Lockdown, die Infektionszahlen steigen auch hier weiter an. Schon Ende letzten Jahres gaben in einer Umfrage der Nachrichtenagentur Kyodo 80 Prozent an, diesen Sommer keine Spiele in Tokio zu wollen. Mittlerweile sind nur noch neun Prozent dafür, dass die Spiele wie geplant stattfinden. „Tokio 2020“ steht mittlerweile für die vielleicht unbeliebtesten Spiele der Geschichte. Warum also noch daran festhalten?

Auch in Tokio bestimmt die Pandemie den Alltag.
Auch in Tokio bestimmt die Pandemie den Alltag. © AFP | CHARLY TRIBALLEAU

Ob die Spiele beliebt sind oder nicht – das spiele keine Rolle, sagt Koichi Nakano, Politikprofessor an der Sophia-Universität in Tokio. „Japan ist eine Gesellschaft, in der die öffentliche Meinung kein guter Indikator dafür ist, was passieren wird.“ Vieles werde in Hinterzimmern entschieden. So fragen sich in Japan auch immer mehr Menschen, ob es bei den Olympischen Spielen überhaupt um Sport geht.

Veranstaltern könnten 19 Milliarden Euro an Einnahmen entgehen

Nakano formuliert diese Zweifel so: „Wenn die Spiele eigentlich kaum mehr jemand will, wem sollen sie dann nützen? Und vielleicht geht es hier um viel Geld. Und deshalb wird die öffentliche Meinung ignoriert.“

Derzeit diskutieren die Verantwortlichen, die Spiele gänzlich ohne Zuschauer zu veranstalten, damit sie inmitten der Pandemie nicht ganz ausfallen müssen. Am Sonnabend beschlossen die Veranstalter, dass Zuschauer aus dem Ausland ausgeschlossen werden. Über inländische Besucher in den Stadien soll im April entschieden werden.

Klar ist: Es droht ein finanzielles Desaster. Eine Studie der Kansai-Universität in Osaka hat ergeben, dass ohne Zuschauer 12 bis 19 Milliarden Euro Einnahmen entgehen würden. Und dabei geht es längst nicht nur um den Ticketverkauf.

Offiziell- Olympia in Tokio ohne ausländische Fans

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    Die Fukushima-Katastrophe vergessen – darum geht es

    „All die neu gebauten Hotels bleiben leer, rund um die Spielstätten fällt der Konsum aus, Werbeaktivitäten gehen zurück“, sagt Ökonomieprofessor Katsuhiro Miyamoto. Obendrein könnten Gäste, die ausbleiben, nicht mehr erzählen, wie schön Japan war. Damit gehe der indirekte Werbeeffekt verloren; das Land bleibe auf geschätzten Kosten von 19 Milliarden Euro sitzen.

    Diesem Ausfall hätte man womöglich mit einer Impfpflicht für Zuschauer und Athleten begegnen können. Für Athleten hat das IOC tatsächlich Impfdosen aus China gesichert. Nur: Das Gastgeberland lehnte das chinesische Vakzin ab. Es würden nur Impfstoffe verwendet, die von nationalen Behörden genehmigt wurden – und das trifft für den Stoff aus dem ungeliebten Nachbarland derzeit nicht zu. Hintergrund: Bach für vier weitere Jahre als IOC-Chef wiedergewählt

    Trotz des riesigen Verlustgeschäfts wird eine Absage nicht ernsthaft in Erwägung gezogen, und dabei gehe es nicht nur um persönliche Karrieren und Gesichtswahrung, sagt Eiichi Kido, Politikwissenschaftler aus Osaka. „Das Motiv von Tokio, die Olympischen Spiele in Japan zu veranstalten, ist, Fukushima vergessen zu machen.“ Denn nur wenn über das Atomdesaster von Fukushima reichlich Gras gewachsen sei, könne die Regierung darauf hoffen, ohne großen gesellschaftlichen Widerstand erneut auf die Atomkraft zu setzen.

    Auch in der Region um Fukushima sollen Wettkämpfe stattfinden

    Die Lage in Fukushima sei allerdings „überhaupt nicht unter Kon­trolle“, sagt der Politikwissenschaftler. Tatsächlich sind immer noch mehr als 40.000 Menschen wegen hoher Strahlenbelastung nahe der Atomruine evakuiert. Berücksichtigt man auch diejenigen, die in den Randgebieten aus eigenen Stücken die Region verließen, fällt die Zählung deutlich höher aus. Lesen Sie hier: Ein Jahrzehnt Fukushima: Als die Heimat zur Todeszone wurde

    Doch der ehemalige Premierminister Shinzo Abe behauptete schon im Spätsommer 2013, als Tokio das olympische Austragungsrecht erhielt, das Gegenteil: Alles sei unter Kontrolle. Um das zu zeigen, sollen sogar in Fukushima olympische Wettkämpfe stattfinden – und zwar in der Sportart Baseball. Der Austragungsort ist allerdings 60 Kilometer von der Kraftwerksruine entfernt.

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