Washington. Ruth Bader Ginsburg war die Wortführerin der Liberalen am Supreme Court. Ihr Tod könnte Donald Trump im Wahlkampf Aufwind bescheren.

„Deine Frauen-Power hat Generationen von Mädchen inspiriert”, steht auf einem selbstgemalten Plakat, das ein großes, rotes Herz ziert. „RBG, Du warst mein Leitstern. Ich bin Dir ewig dankbar”, heißt es auf einem anderen.

Daneben Hunderte Blumensträuße, Topf-Pflanzen, kleine Talismane und liebevolle Kreidezeichnungen auf dem Asphalt, die immer wieder ein schmales Gesicht mit übergroßen Brillengläsern zeigen; auf dem Kopf eine goldene Krone und am dünnen Hals den breiten Kragen einer Richterrobe.

Dazwischen Tausende Menschen, junge, alte, ganze Familien, auffallend viele weibliche Teenager, die am Samstagnachmittag still und andächtig in der milden Herbstsonne Washingtons stehen, um einer, wie die 17-jährige Jennifer sagt, „Gigantin” die letzte Ehre zu erweisen, „die ich so gerne als meine Oma gehabt hätte.”

Trump will dem Wahlkampf mit Ginsbergs Tod eine neue Richtung geben

Die würdevollen Szenen, die sich seit Freitagnacht vor dem imposanten Gebäude des Obersten Gerichts der Vereinigten Staaten abspielen, in dem Ruth Bader Ginsburg („RBG”) 27 Jahre lange Justiz-Geschichte schrieb, stehen in krassem Kontrast zu den machtpolitischen Verrenkungen der US-Regierung, die unmittelbar nach dem Bauchspeicheldrüsenkrebstod der 87-Jährigen einsetzten.

Präsident Donald Trump und die Republikaner sehen durch das Ableben der linksliberalen Kultfigur eine veritable Chance, der am 3. November stattfindenden Wahl ums Weiße Haus auf der Schlussetappe durch schnelles Handeln einen völlig neuen Dreh zu geben.

Washington, D.C. am Freitagabend: Am Supreme Court gedachten Hunderte Menschen der verstorbenen Richterin Ruth Bader Ginsburg, zündeten Kerzen an und legten Blumen nieder.
Washington, D.C. am Freitagabend: Am Supreme Court gedachten Hunderte Menschen der verstorbenen Richterin Ruth Bader Ginsburg, zündeten Kerzen an und legten Blumen nieder. © AFP | Tasos Katopodis

Trumps Republikaner verhinderten ähnlichen Fall unter Obama

Weg von den Negativ-Schlagzeilen der Coronavirus-Pandemie. Weg von Spannungen zwischen Schwarzen und Weißen nach tödlicher Polizeibrutalität. Hin zu einer Personalie, die auch dann noch nachwirkt, wenn die wesentlichen Akteure von heute längst tot sein werden: die Ernennung einer jungen, erzkonservativen Nachfolgerin für „RBG” auf Lebenszeit.

Und damit verbunden die Zementierung einer konservativen 6:3-Mehrheit im neunköpfigen Richtergremium auf Jahrzehnte. Mit potenziell enormen Folgen für die großen nationalen Zank-Themen von Abtreibung, Ehe für Alle, Waffenbesitz, Klimaschutz bis Krankenversicherung.

Mit dem Manöver kurz vor der Wahl würden die Konservativen einen Präzedenzfall schaffen. 2016 weigerten sie sich, einen Kandidaten, den Präsident Barack Obama nach dem Tod des erzkonservativen Richters Antonin Scalia im Februar 2016 nominiert hatte, auch nur anzuhören.

Dank ihrer Mehrheit im Senat saßen sie Merrick Garland einfach aus. Bis Donald Trump im Weißen Haus einzog und ideologisch rechts verortete Juristen installierte.

• Mehr zum US-Wahlkampf: Wegen Corona-Lügen: Biden ruft Trump zum Rücktritt auf

Trump drückt aufs Tempo: Das sind seine Kandidatinnen

Die Machtoption vor Augen, wollen die Republikaner diesmal nichts von Abwarten wissen. Man sei es den Wählern schuldig, die wichtige Vakanz „ohne Verzögerung” zu besetzen, sagte Präsident Trump am Wochenende und warf mit Amy Coney Barrett und Barbara Lagoa bereits zwei Namen in den Ring, die vor allem religiös grundierte Wählerschichten ansprechen und seine Chancen bei der Wahl am 3. November verbessern sollen. Schon in dieser Woche könnt er sich auf einen Namen festlegen, sagte Trump.

Die 48-jährige Barrett, Mutter von sieben Kindern, ist seit 2017 Richterin am Bundesberufungsgericht in Chicago. Die extrem konservative Katholikin, die früher an der Elite-Uni Notre Dame im Bundesstaat Indiana unterrichtete, geht der Ruf voraus, eine entschiedene Abtreibungsgegnerin zu sein.

Sie ist Trump durch ihr entschlossenes Auftreten in ihrer Schlüssel-Anhörung vor dem Senat aufgefallen, als sie die salvenartigen Angriffe der Demokraten gekonnt abwehrte.

Barbara Lagoa wiederum würde potenziell die Latino-Gemeinde in der republikanischen Wählerschaft in Wallung bringen. Die 52-Jährige ist kubanischer Abstimmung. Sie war die erste Verfassungsrichterin mit hispanischen Wurzeln im Bundesstaat Florida und amtiert am Bundesberufungsgericht in Atlanta/Georgia.

Lagoa gilt nach ihrer mit 80 zu 15 Stimmen glatt gelaufenen Ernennung im Senat im Vergleich zu Barrett als „leichter vermittelbar”, sagen Insider am Supreme Court.

Joe Biden sind die Hände gebunden

Den Demokraten um Trump-Herausforderer Joe Biden, die der Tod von „RBG” kalt erwischt hat, sind die Hände gebunden. Aus eigener Kraft können sie die eilige Personalentscheidung nicht hintertreiben, die Trump am liebsten noch vor der Wahl in trockenen Tüchern sehen möchte.

45 eigene und zwei unabhängige Senatoren, die gewöhnlich mit den Demokraten stimmen, reichen gegen 53 Republikaner nicht aus. Gearbeitet wird darum mit Appellen an das moralische Gewissen der Mehrheitspartei, die darüber allenfalls milde lächelt – und mit Drohungen.

Biden- Der nächste Präsident soll Richterstelle besetzen

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    Demokraten bringen Erweiterung des Supreme Courts ins Spiel

    Etwa der, den Obersten Gerichtshof von neun auf elf oder sogar 13 Sitzen zu erweitern, um die jetzt absehbare Sechser-Mehrheit der Konservativen gegen die liberale Trias Elena Kagan - Sonia Sotomayor - Stephen Breyer zu neutralisieren. Möglich wäre das. Die Verfassung schreibt keine Obergrenze vor.

    Seit rund 150 Jahren sind es neun Richter. Vorher wurde mehrfach an der Größe des Gremiums gebastelt. Dazu, so hat der demokratische Senatsführer Chuck Schumer angedeutet, könnte der „Filibuster” fallen. Dabei handelt es sich um ein parlamentarisches Instrument, mit dem 41 von 100 Senatoren per Endlosrede Gesetze blockieren können.

    Die als „nukleare Lösung” bezeichnete Option hat einen Schönheitsfehler: Die Demokraten müssten den „Reps” am 3. November erst die Mehrheit in der zweiten Kammer des Kongresses entreißen. Bei den Konservativen stehen im November 23 Senatoren zur Wiederwahl – 13 von ihnen sind nach jüngsten Umfragen wackelig. Sie dürfen moderate oder unabhängige Wähler nicht vergrätzen. Bei den Demokraten müssen sich zwölf Senatoren dem Votum der Bürger stellen. Nur zwei „Rennen” sind heikel.

    RBG-Nachfolge: Nicht alle Republikaner sind für schnelle Nominierung

    Für den republikanischen Senatsführer Mitch McConnell aus Kentucky, den seit langem die Aura des opportunistisch-gewieften Verhandlers umgibt, sind mehrere Bälle in der Luft und im Blick zu halten. Mit Susan Collins (Maine) hat die erste akut um ihr Wiederwahl fürchtende Republikanerin signalisiert, dass sie einen Durchmarsch gegen den Willen der Demokraten ablehnt. Die Entscheidung über die Nachfolge von „RBG” soll aus ihrer Sicht nach der Amtseinführung des neuen Präsidenten am 20. Januar 2021 getroffen werden.

    Ähnlich ließ sich schon vor der Todesnachricht Senatorin Lisa Murkowski (Alaska) vernehmen. Auch Chuck Grassley (Iowa) fremdelt mit einem Alleingang. Trumps Erzfeind, Senator Mitt Romney (Utah), hat ebenfalls Bedenken laut werden lassen. Unterstellt, dass diese Bedenken zu Gegenstimmen werden, was alles andere als sicher ist, liefe McConnell in eine 50:50 Patt-Situation hinein, die dann Mike Pence zugunsten Trumps auflösen müsste.

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    Trumps Vize könnte zum Zünglein an der Waage werden

    Dem Vizepräsidenten kommt als Senatsvorsitzendem in solchen Situationen die Rolle des Züngleins an der Waage zu. Durchkreuzen könnte diese Rechnung im Falle eines Sieges aber der Ex-Nasa-Astronaut Mark Kelly. Wenn der Demokrat in Arizona die amtierende Senatorin Martha McSally entthront, wäre er aufgrund besonderer Umstände bereits Ende November abstimmungsfähig.

    Der Rest des neuen Senats wird erst Anfang Januar eingeschworen. Die Unwägbarkeiten verblassen jedoch vor der Aussicht auf den öffentlichen Aufruhr, sollten Trump und die Republikaner tatsächlich vor der Wahl den Nominierungsprozess durchziehen.

    US-Promis rufen zu Protesten gegen mögliche RBG-Nachnominierung auf

    In sozialen Netzwerken haben Prominente wie die Schauspielerin Jane Fonda oder der TV-Produzent Beau Willimon („House of Cards”) für diesen Fall zu Generalstreik-ähnlichen Protesten aufgerufen. In der durch die Coronavirus-Krise und die jüngsten Fälle von tödlicher Polizeibrutalität extrem verunsicherten Bevölkerung könnte es „zum großen Knall” kommen, sagte ein Diplomat im Außenministerium in Washington unserer Zeitung am Sonntag und warf einen Blick zurück auf die „brutale“ Senats-Anhörung für den von Trump ausgesuchten Supreme Court-Richter Brett Kavanaugh.

    Republikaner und Demokraten bekämpften sich 2018 rhetorisch bis auf Blut. Kavanaugh, ein gläubiger Katholik aus dem Washingtoner Stadtteil Chevy Chase, wurde seinerzeit von der Psychologie-Professorin Christine Blasey Ford lange zurückliegender sexueller Missbrauchsattacken beschuldigt, die er vehement bestritt. Die live im Fernsehen übertragene „Schlacht” mit Tränen und großen Emotionen, die am Ende mit der knappen Entscheidung von 50 zu 48 Stimmen für Kavanaugh ausging, „hinterließ Wunden, die bis heute nicht verheilt sind.“ Der Kampf um das Erbe von „RBG“ könnte noch heftiger werden.

    Der 9. August 1993: Ruth Bader Ginsburg legt nach ihrer Berufung an den Supreme Court durch Präsident Bill Clinton ihren Eid ab.
    Der 9. August 1993: Ruth Bader Ginsburg legt nach ihrer Berufung an den Supreme Court durch Präsident Bill Clinton ihren Eid ab. © AFP | KORT DUCE

    Ginsburg war 1956 eine von nur neun Jura-Studentinnen in Harvard

    „RBG” wurde als Joan Ruth Bader 1933 als Tochter eines russisch-jüdischen Vaters und einer österreichisch-jüdischen Mutter in New York geboren. Ihre Schwester starb mit sechs Jahren. Als Kind wollte RBG Opernsängerin werden. 1956 wurde sie nach High School und College als eine von nur neun Frauen unter 500 Studenten an der juristische Fakultät der Elite-Universität Harvard aufgenommen. In ihrer Biografie beschrieb sie später, welche Widerstände sie dort überwinden musste. So verlangte der Dekan bei einem Essen jeder Studentin ab, zu erklären, warum sie sich ermächtigt fühle, einem Mann den Platz zu stehlen.

    Dieses vom Obersten Gerichtshof der USA zur Verfügung gestellte Bild zeigt Ruth Bader Ginsburg im Jahr 1948.
    Dieses vom Obersten Gerichtshof der USA zur Verfügung gestellte Bild zeigt Ruth Bader Ginsburg im Jahr 1948. © dpa | Uncredited

    Als Ehemann Marty Ginsburg, den sie mit 17 kennenlernte, an Hodenkrebs erkrankte, stemmte RBG Studium und Erziehung der gemeinsamen Tochter allein. Nach der Universität bekam sie trotz herausragender Leistungen keine Anstellung als Anwältin und stürzte sich stattdessen auf das noch weitgehend unbekannte Feld des Frauenrechts.

    Dort untersuchte sie penibel, wo im US-Recht die Ungleichbehandlung von Mann und Frau in Paragrafen gegossen war und ging dagegen entschlossen vor. Über die Jahre vermochte sie viele Fälle vor Bundesgerichte zu bringen und Ungerechtigkeiten zu beseitigen. Ihr Leitmotiv war bei der Frauenrechtlerin Sarah Grimke geborgt: „Ich bitte nicht um viel für mein Geschlecht. Alles, was ich von meinen Brüdern verlange, ist, dass sie ihre Stiefel aus unserem Nacken nehmen.”

    Ob ihr letzter Wille erfüllt wird, ist angesichts der politischen Konfrontationslage in Washington, wo Präsident Trump in Umfragen hinter seinem Herausforderer Biden liegt und einen „Game-Changer” für den Wahlkampf herbeisehnt, fraglich. Ihrer Enkelin Clara Spera hatte RBG das hier aufgeschrieben: „Mein sehnlichster Wunsch ist es, dass ich nicht ersetzt werde, bevor ein neuer Präsident im Amt ist.” Ein neuer Präsident – nicht Donald Trump.