Berlin. 1517 veröffentlichte Martin Luther seine 95 Thesen. Der Bruch mit der Kirche kam aber erst 1520. Wird der Reformator zu früh gefeiert?

Am 31. Oktober 1517 veröffentlichte Martin Luther in Wittenberg seine 95 Thesen, in denen er vor allem gegen den damals üblichen Ablasshandel Stellung bezog. Das Datum vor nunmehr 500 Jahren wird als Beginn der Reformation begangen – und damit als Ausgangspunkt der Spaltung in Katholiken und Protestanten.

Doch liegt die evangelische Kirche damit richtig? Ein katholischer Kardinal meint: nein.

„Das Bezugsdatum des Lutherjahres ist kein Datum der Trennung, sondern ein Datum, das auch die Katholiken an die stete Reformbedürftigkeit der Kirche erinnert“, schrieb jetzt der Kölner Kardinal Rainer Maria Woelki in einem Beitrag für die „Herder Korrespondenz“. Martin Luther habe mit der Veröffentlichung seiner Ablassthesen „keine neue Kirche gründen“ wollen, so Woelki: „Seine Trennung von Rom erfolgte nicht 1517, sondern 1520.“

Ein Angriff auf das gesamte Kirchengebäude

Der Kardinal bezieht sich mit diesem Urteil auf drei Veröffentlichung Luthers, die er in seinem Beitrag als die „drei Kampfschriften von 1520“ bezeichnet. Legten die 95 Thesen – bildlich gesprochen – die Zündschnur an die Grundfesten der bis dahin bestehenden Kirche, so entzündeten drei Jahre danach die drei Texte die Flamme.

Auch Margot Käßmann, ehemalige Bischöfin und Botschafterin der Evangelischen Kirche für das Reformationsjubiläum, betonte: „1517 war Luther – wie wir heute sagen würden – ein ,Reformkatholik’. Seine Thesen zum Ablasshandel könnten die meisten römischen Katholiken im 21. Jahrhundert abzeichnen.“ Der Beginn der Reformation sei eher auf das Jahr 1520 zu datieren. Aber der 31. Oktober 1517 sei inzwischen nun einmal zum „Symboldatum“ der Reformation geworden, so Käßmann.

Für die britische Luther-Biografin Lyndal Roper, die mit ihrem überaus lesenswerten Buch „Der Mensch Martin Luther“ (S. Fischer Verlag, ca. 730 Seiten, 28 Euro) den wohl spannendsten literarischen Beitrag zum 500. Reformationsjubiläum lieferte, bilden die drei Schriften zusammen „einen in sich schlüssigen Angriff auf das gesamte Gebäude der katholischen Kirche“.

Was steht nun in den Texten?

Gegen Papst, Zölibat und Priesterweihe

• Die erste Schrift mit dem Titel „An den christlichen Adel deutscher Nation von des christlichen Standes Besserung“ ist eine Art Zusammenfassung der Beschwerden über Missstände in der Amtskirche. Er prangert die Prunksucht des Papstes an, wettert gegen den Zölibat, lehnt die Priesterweihe ab. Er will den Klerus entmachten, die Landesfürsten sollen als „Notbischöfe“ eingesetzt werden.

• Nur wenige Monate später erscheint eine noch radikalere Abhandlung Luthers: „Von der babylonischen Gefangenschaft der Kirche“. Darin greift Luther eine zentrale Position der Papstkirche frontal an: die Lehre von den Sakramenten. Von den sieben Sakramenten lässt er nur zwei gelten: Taufe und Kommunion. Die anderen – Firmung, Beichte, Ehe, Weihe, Letzte Ölung – seien nicht durch die Bibel beglaubigt. Damit ist das Tischtuch mit Rom endgültig zerschnitten.

Der Bestseller der Reformation: Ein Druck von Luthers Schrift
Der Bestseller der Reformation: Ein Druck von Luthers Schrift "Von der Freiheit eines Christenmenschen". © dpa | Ralf Hirschberger

• Gerade einmal 30 Seiten umfasst Luthers dritte Schrift aus dem Jahr 1520: „Von der Freiheit eines Christenmenschen.“ Sie wurde zum am meisten gedruckten und gelesenen Werk des 16. Jahrhunderts. Biografin Loper fasst das Kernanliegen so zusammen: „Einzige Voraussetzung für einen Christenmenschen sei es, dass der innerliche Mensch an Gott glaube, durch Werke, die der äußerliche Mensch vollbringe, können niemand zum Glauben gelangen.“ Luther sprach „jedermann“ das Recht zu, selbst zu entscheiden, wer die wahre christliche Lehre predige, „niemand musste mehr hinnehmen, was der Priester ihm vorsetzte“, so Loper. Luther-Botschafterin Käßmann drückte es so aus: „Die Kirche ist die Gemeinschaft der Getauften, aber nicht mehr die Heilsmittlerin für den Einzelnen.“ Wozu also noch Geistliche?

Luther inszenierte ein Spektakel

Wäre nach dem Thesenanschlag von 1517 Riss zwischen Luther und der Amtskirche zumindest theoretisch noch zu kitten gewesen, so stellen die Schriften drei Jahre danach den Bruch dar. Luther selbst vollzog diesen Bruch, indem er am 10. Dezember 1520 die Bulle des Papstes, die ihn zum Widerruf auffordert und in der ihm der Bann angedroht wird, in Wittenberg öffentlich verbrannte. „Es war ein sorgsam inszenierter Akt“, wie Biografin Loper schreibt. Ein Spektakel.

Tatsächlich war nun die Geduld des Papstes endgültig erschöpft. Am 3. Januar 1521 wurde Luther durch Papst Leo X. exkommuniziert und der Bannfluch über ihn verhängt. Die Reformation war nicht mehr aufzuhalten.