Braunschweig. Die Präsidentin der niedersächsischen Ärztekammer, Martina Wenker, spricht im Leser-Interview über Ärztemangel und fehlende Fortbildungen.

fragt Franziska Forkert, Medizinstudentin kurz vor Ende ihrer Ausbildung

„Viele Krankenhäuser zahlen Ärzten im praktischen Jahr kein Geld. Wie stehen Sie dazu?“

Halbgötter in Weiß? Das war einmal. Ärzte, der Ärztenachwuchs und ihre Standesvertreter haben auch Probleme: Vielerorts fehlen Kollegen, Medizinstudenten haben nicht überall die Studienbedingungen, die sie sich wünschen. Und auch bei der Versorgung von Patienten könnte manches besser werden. Darüber diskutierte Martina Wenker, Chefin der Ärztekammer in Niedersachsen, mit Lesern unserer Zeitung. Jens Gräber hat das Gespräch aufgezeichnet.

Norbert Meyer: Ich habe das Gefühl, dass Ärzte beim Thema Amputationen immer noch an dem festhalten, was sie früher mal gelernt haben – man nimmt erstmal so wenig weg, wie irgendwie geht. Dabei ist die Technik heute so weit, dass es zum Beispiel ganz tolle elektronische Füße gibt. Die haben eine bestimmte Einbauhöhe. Wird also bei der Amputation mehr abgenommen, hat der Patient oft danach viel mehr Möglichkeiten, verschiedene Prothesen zu testen und eine zu finden, die ihm hilft.

Große Firmen wie Otto Bock sagen ja schon: einheitliche Amputationshöhen wären klasse. Was man früher im Studium gelernt hat, passt heute nicht mehr so ganz. Könnte man das nicht den Ärzten mal besser vermitteln?

Das ist faszinierend. Tatsächlich habe ich auch damals noch gelernt, man nimmt bei Amputationen möglichst wenig weg – die sogenannte Salamitechnik. Sie haben Recht, da hat sich in der Medizintechnik wahnsinnig viel entwickelt, und vielleicht nicht jeder ältere Kollege ist auf dem aktuellen Stand.

Da werde ich gleich mal den Ombudsmann für Orthopädie beziehungsweise Chirurgie ansprechen. Wir haben da natürlich durchaus die Möglichkeit, Fortbildungen zu machen – vielleicht ja auch gemeinsam mit Ihrer Selbsthilfegruppe. Und dann setzen wir einen Artikel mit Fotos in unser Ärzteblatt, damit wir möglichst viele Ärzte erreichen.

Franziska Forkert: Ich kann dazu nur sagen: Auch heute ist das im Studium noch nicht angekommen. Auch bei meinen Praktika habe ich da eher die alte Schule kennengelernt.

Meyer: Wenn das selbst bei den jungen Leuten noch nicht ankommt – damit tut man den Patienten absolut nichts Gutes.

Wir können ja mal gemeinsam eine Fortbildung organisieren zu dem Thema. Solche Lücken müssen geschlossen werden. Das gilt zum Beispiel auch für das Thema Schmerztherapie. Wie haben Sie eigentlich den Umgang damit erlebt bei ihren Praktika, Frau Forkert?

Forkert: Auf einer Station für Innere Medizin gab es vor allem einen Kollegen, der sich damit besser auskannte. Das war dann natürlich ein Problem, wenn er nicht da war. Überhaupt, es waren einfach zu wenig Ärzte. Dazu kommt dann noch der Kostendruck.

Zu wenig Ärzte – das höre ich überall, egal wo ich hinkomme. Und das Problem verschärft sich in den kommenden zehn Jahren. Viele Hausärzte gehen nach und nach in den Ruhestand, es kommen nicht mehr genug nach. Wir bilden zu wenig aus, und zu wenige wollen dann wirklich in eine Hausarztpraxis gehen. Wir brauchen sofort 1000 zusätzliche Studienplätze für Medizin.

Andrea Zelesnik: Da möchte ich aber wirklich mal wissen, wo können Sie welchen Einfluss geltend machen, um etwas zu verändern?

Wir müssen das immer wieder thematisieren, ohne Ende. Am besten mit immer klareren Worten. Allein können wir das aber auch als Ärztekammer nicht schaffen, wir müssen uns Verbündete suchen. Das sind die jungen Kollegen, die sagen, so geht es nicht mehr weiter. Wir brauchen auch die Patientenverbände als Verbündete.

Und vor kurzem haben jedenfalls die Kostenträger in Niedersachsen zum ersten Mal gesagt: Der Ärztemangel ist wohl doch kein reines Verteilungsproblem. Auch dort ist die Botschaft angekommen. Das Verheerende ist eben: Wenn wir jetzt anfangen, mehr auszubilden, dauert es 12 bis 15 Jahre, bis die jungen Fachärzte fertig sind.

Da müssen wir die Politik immer weiter drängen, das schaffen wir nur mit Verbündeten. Der Staat hat ja auch eine Pflicht bei der Daseinsvorsorge. Wir müssen den gesellschaftlichen Druck aufbauen.

Zelesnik: Okay, wo und wie?

Gerade vor, aber auch direkt nach Wahlen. Wir sind sehr gespannt, wer der nächste Bundesgesundheitsminister wird. Da machen wir dann Antrittsbesuche und bringen natürlich unsere Themen vor. Ganz oben steht für mich dabei der Ärztemangel.

Natürlich kostet es Geld, Studienplätze zu schaffen. Aber wenn wir es jetzt nicht machen, werden die Folgekosten, die irgendwann auflaufen, enorm sein.

Zelesnik: Das Problem ist ja nicht nur der Ärztemangel. Es gibt noch eine ganz andere Lücke. Wenn jemand schwerer erkrankt, schreibt ihn der Hausarzt erstmal krank. Dann zieht sich das hin bis zur Diagnose, sie müssen zu Fachärzten. Die Krankschreibung geht weiter, dann kommt irgendwann die Krankenkasse und sagt: Das dauert jetzt aber schon lange, da müssen wir mal Gespräche führen. Teilweise behauptet der Medizinische Dienst der Kassen dann einfach, jemand sei wieder gesund.

Dann sitzt der Patient da und ist hilflos. Das ist diese Lücke: Wer unterstützt die Leute dann? Es geht dann um viele Formulare, man braucht Befunde. Wer besorgt die? Vielleicht geht es später um die Frage, ob jemand einen Pflegegrad hat. So etwas wissen Ärzte und ihre Helferinnen oft nicht, oder es fehlt ihnen die Zeit. Wer kann da also helfen?

Wir werden oft gefragt, ob wir das nicht als Ärztekammer machen können. Da muss ich aber immer sagen, dass wir ein Organ der ärztlichen Selbstverwaltung sind. Die Beiträge unserer Mitglieder – es ist ja eine Pflichtmitgliedschaft – dürfen wir nach Maßgabe des Heilkammergesetzes nur für die Belange von Ärzten ausgeben.

Das Problem ist einfach, dass Patienten die kleinste Lobby haben. Da kann man leider nur sagen, der Patient muss versuchen, über seinen Hausarzt jemanden zu finden, der sich kümmert.

Zelesnik: Aber das müsste doch auch eine Leistung der Ärzte selbst sein.

Vielleicht müssen wir da weiterdenken. Der Arzt alleine kann das alles nicht auch noch zusätzlich leisten. Aber wir können unterstützen, indem wir die Medizinischen Fachangestellten, also die Helferinnen in den Praxen, weiter qualifizieren. In diesem Bereich können diese dann gemeinsam mit dem Arzt den Patienten helfen. Vielleicht müssen wir das noch stärken bei den Fortbildungen. Und wir müssen die Ärzte ermuntern, es für ihre Mitarbeiterinnen zu nutzen.

Forkert: Ein Problem im Medizin-Studium sehe ich darin, dass es sehr verschult ist. In meinem Studium war der Anteil an Praktika sehr gering. Man lernt so viel mehr, wenn man ein Mal einen Patienten mit einem bestimmten Krankheitsbild sieht, als wenn man immer nur Bücher liest. Ich würde mir wünschen, dass man mehr am Patienten lernt.

Da rennen Sie bei mir offene Türen ein. Es gibt schon Modellstudiengänge, die diesen Ansatz sehr in den Vordergrund rücken: Lernen am Patienten.

Ich finde auch, es darf nicht mehr so stark um die Abiturnote gehen. Die entscheidet nicht allein, ob jemand ein guter Arzt wird. Es gibt bereits Universitäten, die bei ihren Auswahlverfahren andere Kriterien stärker berücksichtigen: Hat jemand zum Beispiel eine Ausbildung in einem Pflegeberuf gemacht, oder vielleicht ein soziales Jahr? Es gehören eben auch andere Fähigkeiten dazu, Arzt zu sein. Soziale Kompetenzen, Empathie, Kommunikationsfähigkeit.

Ich unterstütze also ihre Forderung nach mehr Praktika. Ich kann aber auch jeden Medizinstudenten nur ermuntern, in den Semesterferien mal im Krankenhaus zu jobben. Das habe ich früher auch gemacht, weil ich etwas Geld verdienen wollte. Und dabei habe ich viel gelernt.

Forkert: Wo sie das Thema Geld ansprechen: Es gibt nach wie vor rund hundert Krankenhäuser in Deutschland, die Ärzten im praktischen Jahr während ihres Studiums gar kein Geld zahlen. Dabei ist man ja in der Zeit im Grunde ein vollwertiges Mitglied des Teams. Wie stehen Sie dazu?

Das zeigt einfach, dass man für mehr Medizinstudienplätze auch mehr Geld braucht. Viele können sich das nicht mehr leisten, dann etwas zu bezahlen. Die Grundfinanzierung des Studiums und der ausbildenden Häuser müsste verbessert werden, damit die das auch leisten können.

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