Berlin. Die Lufthansa lässt wegen angeblich starrer EU-Regeln derzeit täglich 100 „unnötige Flüge“ abheben. Worum geht es in dem Streit?

100 Mal am Tag startet derzeit irgendwo in Europa eine Lufthansa-Maschine mit so wenigen Passagieren an Bord, dass Europas größte Airline die Verbindung am liebsten gestrichen hätte. Mit der Ausbreitung der Omikron-Variante des Coronavirus sind die Buchungszahlen erneut eingebrochen.

Doch nach EU-Regeln verlieren Fluggesellschaften wertvolle Start- und Landerechte, wenn sie zu viele Flüge streichen. Also fliegt die Lufthansa. Jetzt schaltet sich Bundesverkehrsminister Volker Wissing (FDP) in den Streit um die massive Umweltbelastung ein.

Lufthansa Leerflüge: Worum geht es in dem Streit?

Lufthansa-Chef Carsten Spohr hat in einem Interview zu Weihnachten erklärt, dass wegen der Omikron-Variante des Coronavirus die Buchungen ab Mitte Januar abreißen. Daher habe der Konzern im Winterflugplan bis Ende März jeden zehnten Flug gestrichen, insgesamt rund 33.000 Verbindungen. Darüber hinaus hätten laut Spohr 18.000 weitere „unnötige Flüge“ wegfallen könnten.

Dem stünden EU-Regeln zum Erhalt von Start- und Landerechten, sogenannten Slots, entgegen. „Das schadet dem Klima und ist exakt das Gegenteil von dem, was die EU-Kommission mit ihrem Programm ‚Fit for 55‘ erreichen will“, kritisierte Spohr. Aktuell stünden noch 11.000 dieser Flüge aus.

Die EU-Kommission weist die Vorwürfe zurück. „Die Entscheidung, Strecken zu bedienen oder nicht, ist eine kommerzielle Entscheidung der Fluggesellschaft und nicht das Ergebnis von EU-Vorschriften“, sagte ein Sprecher. Auch Lufthansa profitiere von zahlreichen Ausnahmeregeln.

Was sind Slots?

Ein Slot ist ein Zeitfenster für Starts und Landungen an einem Flughafen. Damit die Fluggesellschaften auch tatsächlich Verbindungen zu diesen Zeiten anbieten, mussten sie vor Corona jeden Slot zu mindestens 80 Prozent nutzen. Nach Ausbruch der Pandemie wurde die Regel weltweit ausgesetzt. Im Sommer 2021 mussten Airlines in der EU wieder mindestens 25 Prozent der Slots bedienen. Im aktuellen Winterflugplan sind es 50 Prozent.

Die Lufthansa kritisiert, dass außer Deutschland, Österreich und Italien fast kein anderes Land von den Ausnahmeregelungen Gebrauch mache, jede Ausnahme einzeln beantragt werden müsse – und Genehmigungen meist viel zu spät erteilt würden. Im kommenden Sommer steigt die Quote auf 64 Prozent. Mehr zum Thema: Klimaschutz – Kann das Fliegen wirklich grüner werden?

Sind die Flugzeuge wirklich leer?

Lufthansa betont, dass es sich bei „unnötigen Flügen“ nicht um Leer- oder Geisterflüge handele. Die Flüge seien buchbar, pandemiebedingt aber nur wenige Leute an Bord. Ab wann die Airline einen Flug als unnötig ansieht, will sie auf Nachfrage nicht preisgeben. 2019, im Jahr vor der Pandemie, waren bei Lufthansa im Schnitt 82,5 Prozent der Sitzplätze besetzt. Im dritten Quartal 2021 flog die Airline mit einer Auslastung von 70 Prozent knapp in die Gewinnzone.

Was fordert die Lufthansa?

Der Konzern pocht auf eine kurzfristige und europaweit einheitliche Ausnahmeregelung für die Nutzung von Start- und Landerechten. „Die für den Winterflugplan geltende Slot-Regel ist vor dem Auftreten von Omikron beschlossen worden und passt nicht mehr zur aktuellen Pandemiesituation“, sagte eine Lufthansa-Sprecherin unserer Redaktion. „In anderen Regionen der Welt wie etwa in den USA sind die Slot-Regeln pandemiebedingt temporär ausgesetzt.“

Was sagt die Bundesregierung?

Verkehrsminister Wissing hat sich in den Streit eingeschaltet und will sich an diesem Dienstag mit EU-Verkehrskommissarin Adina Valean persönlich austauschen, erfuhr unsere Redaktion aus dem Ministerium. Wissing sei sich des Pro­blems auch in Bezug auf die klimaschädlichen Auswirkungen bewusst und habe sich daher bereits kurz nach Amtsantritt an Valean gewandt, hieß es.

In dem Schreiben betonte er, dass „es für mich von besonderer Bedeutung und Dringlichkeit ist, eine kurzfristige Entlastung bei den Vorschriften für die Nutzung von Zeitnischen (Slots) aufgrund der sich wieder verschärfenden Covid-19-Krise für den Luftverkehr zu erreichen“. Weiterlesen: Macht der Corona-Stillstand das Fliegen gefährlicher?

Hat nur Lufthansa dieses Problem?

Nach der Lufthansa hat inzwischen auch die französisch-niederländische Gruppe Air France-KLM Ausnahmen gefordert. Beide Konzerne sind sogenannte Netzwerk-Airlines: Ihre Drehkreuze für den Langstreckenverkehr wie Frankfurt, München oder Amsterdam sind auf Zubringerflüge zu passenden Zeiten angewiesen. Daher ist ihnen der Erhalt der Slots für die Zukunft besonders wichtig. Billigflieger wie Ryanair, Easyjet oder Wizz Air sind in der Regel nicht auf bestimmte Zeitfenster angewiesen.

Der Chef des Billigfliegers Ryanair, Michael O’Leary, warf der Lufthansa vor, Krokodilstränen mit Blick auf die Umwelt zu weinen. Er schlug dem Rivalen vor, die Flugzeuge mit sehr günstigen Ticketpreisen von 9,99 Euro zu füllen, statt sich über Geisterflüge zu beschweren. Zudem forderte er die EU-Kommission auf, nicht genutzte Slots anderweitig zu vergeben. Mehr zum Thema: Rechte für Verbraucher – Der Streit ums Flugticket lohnt sich

Wie ernst solche Aussagen von O’Leary üblicherweise zu nehmen sind, zeigen jedoch zwei andere aktuelle Entwicklungen: Am besonders umkämpften Lufthansa-Drehkreuz Frankfurt macht Ryanair seine Basis im April dicht. Und an 24 Slots, die Lufthansa im Gegenzug für die Staatsrettung zu Beginn der Corona-Pandemie zur Verfügung stellen musste, hat bislang kein einziger Konkurrent Interesse gezeigt.