Rotterdam. Deutschland saniert seine Straßen – und schickt Hunderte Schiffe mit Asphalt in die Niederlande. Das kostet Geld und sorgt für Ärger.

Im Hafen von Rotterdam erstreckt sich ein riesiges Rohr, es ist mit sieben Metern so hoch wie ein Haus und 70 Meter lang. Über ein Gerüst gelangt man an ein kleines Fenster, durch das man in eine Feuerhölle blickt. Flammen peitschen meterhoch über der schwarzen Masse, die durch das dunkle Innere der Röhre hinabkriecht, begleitet von einem tiefen und dumpfen Dröhnen.

Obwohl der kalte Wind in 25 Meter Höhe über dem Rotterdamer Hafen fegt, ist die immense Hitze in dem sich drehenden rostroten Koloss auch auf der anderen Seite des Fensters deutlich zu spüren. Dort steht in luftiger Höhe auf einem Stahlgerüst Jan Hoeflaken, ein drahtiger 51-Jähriger mit grauen Haaren und einem breiten Lächeln im Gesicht. Er schaut durch das Fenster auf die brennende schwarze Masse, mit der auch viele Deutsche bereits in Berührung gekommen sind, ohne es zu wissen. Hier, mitten im Rotterdamer Hafen, Hafennummer 3260, landen auf einem Areal, das so groß ist wie rund 50 Fußballfelder, jedes Jahr Tausende Tonnen alter deutscher Straßen.

Eine Milliarde Tonnen Teer liegt auf deutschen Straßen

Deutschland hat ein Problem mit seinen Straßen. Denn in ihnen schlummern Abermillionen Tonnen Teer. Dabei wird der Klebstoff schon seit vier Jahrzehnten nicht mehr genutzt, um Straßen zu asphaltieren – Teer ist krebserregend, mittlerweile ist auch seine Wiederverwendung als Straßenbelag verboten. Werden Straßen asphaltiert, wird dafür das als „Erdpech“ bekannte Bitumen genutzt, das bei der Aufbereitung von Erdölen gewonnen wird.

Bis in die 1980er-Jahre hinein war das noch anders, damals wurden Straßen tatsächlich noch geteert. Heute schlummert fast eine Milliarde Tonnen des Klebstoffs in den Straßen, die nun nach und nach zurückgebaut werden. Doch wohin mit dem krebserregenden Teer?

Die Niederlande profitieren von den gelieferten Rohstoffen

Derzeit gibt es nur zwei Möglichkeiten: Die eine führt auf Deponien, wo die Straßenreste gelagert werden. Das ist zwar günstig, löst das Problem der krebserregenden Stoffe aber nicht. Die Deponiekapazitäten hierzulande reichen auch gar nicht aus, um die gesamten Straßenreste unterzubringen.

Bleibt Möglichkeit zwei und die führt auf das Stahlgerüst zu Jan Hoeflaken und seiner gewaltigen Höllenmaschine. In der in Magdeburg hergestellten Röhre wird Teer bei Temperaturen von bis zu 950 Grad Celsius verbrannt. Doch nicht nur das. Hoeflaken klettert das Gerüst herunter, folgt dem langen Rohr, steigt eine weitere Treppe herab, vorbei an Gas- und Wärmeleitungen, bis er schließlich wieder auf dem Boden angekommen ist. 50 Meter weiter greift er mit der bloßen Hand in ein Fließband. Sand rieselt durch Hoeflakens Finger, in seiner Handfläche liegt Kies. Reine Rohstoffe, entstanden durch recycelte Straßenreste.

Jan Hoeflaken blickt durch ein kleines Fenster in den sich drehenden Koloss, der Tausende Tonnen deutscher Straßen recycelt.
Jan Hoeflaken blickt durch ein kleines Fenster in den sich drehenden Koloss, der Tausende Tonnen deutscher Straßen recycelt. © Funke Foto Service | Jakob Studnar

Nur in Rotterdam können teerhaltige Straßen derzeit recycelt werden

„Die Holländer sind total begeistert von den Deutschen: Wir stellen ihnen den größten Steinbruch Europas zur Verfügung. Und zahlen dafür auch noch Geld“, klagt Ralf Schär. Der Bauunternehmer ist seit 30 Jahren Chef der Bickhardt Bau AG, einem auf Straßenbau spezialisiertem mittelständischen Unternehmen aus dem hessischen Kirchheim. Und er liefert regelmäßig Straßenreste nach Rotterdam. Denn dort gibt es die einzigen Anlagen in Europa, die teerhaltige Straßenreste recyceln können.

Schon seit 2006 betreibt die Recycling Combinate BV, kurz Reko, die Anlage, nachdem die Niederlande ein Deponieverbot für teerhaltige Straßenreste verhängt hatten. Vor zwei Jahren stieß Jan Hoeflaken als stellvertretender Geschäftsführer zu dem 120 Mitarbeiter zählenden Familienunternehmen hinzu. Im vergangenen Jahr konnte Reko eine zweite, 125 Millionen Euro teure und hochmoderne Anlage an den Start bringen.

Die Schiffe kommen von überall: aus Deutschland, der Schweiz, Frankreich, Flandern, selbst aus Dänemark und Großbritannien. Rund um die Uhr an jedem Tag der Woche werden Straßenreste recycelt. In der Lagerhalle nebenan türmen sich Straßenreste auf eine Höhe von mehr als zehn Metern, bilden abstrakte Bergkonstruktionen, ehe sie von einer der größten Brecheranlagen Europas zermahlen und anschließend im Drehrohr recycelt werden. „Die Anlage läuft auf Volllast. Die Nachfrage ist so groß, dass wir kaum hinterherkommen“, sagt Hoeflaken.

Jan Hoeflaken steht in der Lagerhalle vor den Bergen an teerhaltigen Straßenresten.
Jan Hoeflaken steht in der Lagerhalle vor den Bergen an teerhaltigen Straßenresten. © Funke Foto Service | Jakob Studnar

Entstehende Wärme deckt Energiebedarf von 70.000 Familien

1,8 Millionen Tonnen teerhaltige Straßenreste kann die Rotterdamer Firma Reko im Jahr wiederaufbereiten. Es ist ein lukratives Geschäft, denn die alten Straßen bieten wahre Schätze: „Der Teer klebt wertvolle Materialien zusammen, etwa Basalt oder Diabas. Die Tonne kostet zwischen 10 und 15 Euro“, sagt Bauunternehmer Schär, der neben seiner Firma den Fachbereich Straßenbau im Hauptverband der Deutschen Bauindus­trie (HDB) leitet.

Doch nicht nur die recycelten Rohstoffe, die Splitte, Sande und Füllstoffe sowie als Nebenprodukt auch noch Gips, sind eine gern gesehene Einnahmequelle der Niederländer: Beim Verbrennen des Teers entstehen Dampf und Wärme, die in Strom umgewandelt werden. 200.000 Megawattstunden können so pro Jahr erzeugt werden – das entspricht dem Jahresbedarf von 70.000 Familien. 2026 soll zudem das Fernwärmenetz stehen, dann könnte Reko die Wärme direkt und ohne Umwandlungsverluste einspeisen. Die recycelten Rohstoffe verkauft Reko an Asphalt- und Betonmischanlagen weiter. Die gewonnenen Materialien sorgen so für einen neuen Belag niederländischer Straßen. „Die Niederlande haben nicht viele Rohstoffe und sind stark abhängig vom Import von Primärrohstoffen“, erklärt Hoeflaken. „Daher ist das Zusammenspiel besonders lohnend.“

Reine Rohstoffe: Nach dem Recycling bleiben Sande, Kiese und Füllstoffe übrig. Zudem entstehen Wärme und Gips.
Reine Rohstoffe: Nach dem Recycling bleiben Sande, Kiese und Füllstoffe übrig. Zudem entstehen Wärme und Gips. © Funke Foto Service | Jakob Studnar

Eine absurde Reise des deutschen Teers

Während die Rotterdamer mit den Rohstoffen der deutschen Straßen ihre eigenen Straßen neu asphaltieren und perspektivisch ihre Städte heizen, sind hierzulande viele mittelständische Baufirmen frustriert. „Der Straßenrückbau ist aus Sicht der Baustellenlogistik eine Katastrophe“, sagt Schär und referiert die absurden Wege des deutschen Teers.

Finde man auf einer Baustelle teerhaltiges Material, müsse es separiert und gefräst werden, ehe es anschließend zur bisweilen 100 Kilometer entfernten Sammelstelle gefahren wird, wo es wieder untersucht wird, berichtet Schär. Dann geht es weiter zu den Wasserstraßen, wieder 100 bis 150 Kilometer. Dort landet die alte Straße auf Schiffen und geht nach Rotterdam, wo die Reko zwischen 30 und 40 Euro pro Tonne alte Straßen als Entgelt nimmt. Die Kosten für Transport, Sichtung und Entsorgung gehen bei den Bauunternehmen hierzulande ins Geld: „In der Summe kostet uns das 90 Euro pro Tonne“, sagt Schär. Bei einer Tagesleistung von 2500 Tonnen wird das teuer. Noch bizarrer: Gerade in einigen nord- und ostdeutschen Regionen sind die Rohstoffe für den Straßenbau knapp, werden deshalb aus Schottland oder Skandinavien importiert.

In dem roten Drehrohr wird der Teer bei Temperaturen von bis zu 950 Grad Celsius verbrannt.
In dem roten Drehrohr wird der Teer bei Temperaturen von bis zu 950 Grad Celsius verbrannt. © Funke Foto Service | Jakob Studnar

Bauindustrie will eine Recycling-Anlage auch in Deutschland errichten

Die deutsche Bauindustrie will deshalb nicht mehr nur länger neidisch nach Westen gucken. „Es ist klimapolitischer Unsinn, mittelfristig Tonnen von Bauschutt in die Niederlande zu fahren – um es dort teuer zu verwerten“, sagte HDB-Hauptgeschäftsführer Tim-Oliver Müller unserer Redaktion. In einem Positionspapier, das unserer Redaktion vorliegt, spricht sich der Verband für den Bau einer solchen Anlage in Deutschland aus.

Würde man in Deutschland eine Anlage bauen, die rund 500.000 Tonnen Straßenreste pro Jahr recyceln könnte, würde das zwischen 70 und 80 Millionen Euro kosten, kalkuliert Bauunternehmer Ralf Schär. Die Effekte wären gewaltig: Allein mit den derzeit mit Teer verklebten Rohstoffen auf deutschen Straßen könne man eine halbe Million Straßenkilometer sanieren, rechnet Schär vor. Mit dem gewonnenen Strom einer solchen Anlage könnten pro Jahr 16.000 Vier-Personen-Haushalte versorgt werden, heißt es vom HDB.

Mehrere mittelständische Baufirmen hätten bereits Interesse an einer Kooperation, sagt Schär. Nötig sei aber auch politische Unterstützung. „Ein solches Investment muss sich nach zehn Jahren rechnen und darf nicht an langen Planungsverfahren scheitern.“

Meterhoch stapeln sich die meist mit Schiffen angelandeten Straßenreste am Hafengelände, ehe sie gebrochen und recycelt werden.
Meterhoch stapeln sich die meist mit Schiffen angelandeten Straßenreste am Hafengelände, ehe sie gebrochen und recycelt werden. © Funke Foto Service | Jakob Studnar

Lange Genehmigungsverfahren verhinderten Bau einer Anlage

Genau daran ist das Vorhaben aber schon einmal gescheitert. Denn auch Reko hatte vor rund sechs Jahren erwogen, eine solche Anlage in Deutschland zu errichten. Am Ende ließ man das Projekt entnervt von den langen Genehmigungsverfahren fallen. Derzeit ist man auf der Suche nach einem Standort, wo eine dritte Anlage gebaut werden könnte. „In Rotterdam sind die Behörden auf solche Vorgänge spezialisiert, die Genehmigungsverfahren dauern normalerweise zwei Jahre“, sagt Hoeflaken – Zeiträume, von denen man in Deutschland meist nur träumen kann.

Die Bauindustrie fordert mittlerweile selbst ein Verbot, die Teerreste auf Deponien abzuladen. In den Niederlanden gibt es ein solches Verbot bereits seit 2001 – und löste den Bau der Reko-Anlagen aus.

Reko wollte eine Anlage auch in Deutschland bauen – und scheiterte an der Bürokratie.
Reko wollte eine Anlage auch in Deutschland bauen – und scheiterte an der Bürokratie. © Funke Foto Service | Jakob Studnar

Deutschland könnte mit eigener Anlage viel CO2-Emissionen einsparen

Auch unter Gesichtspunkten des Klimawandels würde Deutschland profitieren. Laut einer Studie des Fraunhofer-Instituts für Silicatforschung (FISC) liegen die Einsparungen in der gesamten Wertschöpfungskette zwischen 30 und 240 Kilogramm CO2-Emissionsäquivalent pro Tonne Straßenaufbruch. Schon acht Tonnen recycelten Straßenaufbruchs könnten damit die CO2-Emissionen für ein ganzes Jahr Autofahren mit einem Mittelklassewagen kompensieren. Und in den Straßen schlummern nicht acht Tonnen Teer. Dort liegt eine Milliarde Tonnen Teer.

In Deutschland setzen die Baufirmen darauf, gegebenenfalls auch Reko mit ins Boot zu holen. Jan Hoeflaken aus Rotterdam ist nicht abgeneigt. „Vielleicht“, sagt er mit seinem breiten Lächeln, könne das eine Option sein.

Bis zu 240 Kilogramm CO2-Emissionsäquivalente können beim Recycling eingespart werden.
Bis zu 240 Kilogramm CO2-Emissionsäquivalente können beim Recycling eingespart werden. © Funke Foto Service | Jakob Studnar

Dieser Artikel erschien zuerst auf www.abendblatt.de