Berlin. Immer mehr Konzerne vermeiden die paritätische Mitbestimmung von Arbeitnehmern. Mit diesen Folgen.

Immer mehr deutsche Unternehmen nutzen die Umwandlung ihrer Rechtsform in eine Europäische Aktiengesellschaft (SE), um die paritätische Mitbestimmung in Aufsichtsräten und gesetzliche Frauenquoten zu umgehen. Dies hat eine aktuelle Analyse des Instituts für Mitbestimmung und Unternehmensführung (I.M.U.) der gewerkschaftsnahen Hans-Böckler-Stiftung ergeben, die dieser Redaktion vorliegt.

Insgesamt gibt es aktuell 424 deutsche SE-Unternehmen, darunter 107 mit mehr als 2000 Mitarbeitern. „Vier von fünf dieser großen SE vermeiden die paritätische Beteiligung im Aufsichtsrat“, so die Studie. „Damit sind aktuell mehr als 300.000 Arbeitnehmerinnen und Arbeitnehmer betroffen, die Tendenz ist seit Jahren steigend.“

Flucht aus der Mitbestimmung: Nur vier SE-Konzerne im Dax halten sie ein

Durch die Erweiterung des Dax auf 40 Mitglieder seien nun 14 SE-Konzerne im wichtigsten Börsenindex vertreten. Doch nur noch vier davon – Allianz, BASF, E.ON und SAP – haben noch einen paritätisch besetzen Aufsichtsrat. Dem stehen 211 große deutsche Aktiengesellschaften (AG) mit paritätischer Mitbestimmung gegenüber.

„Die meisten Unternehmen gehen den Schritt, um die Mitbestimmung in Aufsichtsräten zu umgehen. Sie schließen damit zugleich die Anwendung der Frauenquote in Aufsichtsräten und Vorständen aus“, sagt Sebastian Sick, I.M.U.-Experte für Unternehmensrecht und Mitglied der Regierungskommission Deutscher Corporate Governance Kodex.

Mitbestimmung ist wichtiger Pfeiler der sozialen Marktwirtschaft

Die gleichberechtigte Mitbestimmung in Aufsichtsräten großer Unternehmen gilt eigentlich als wichtiger Grundpfeiler der sozialen Marktwirtschaft. Seit 45 Jahren müssen die Sitze dieser Gremien in deutschen Konzernen ab 501 bzw. 2001 inländischen Mitarbeitern mit einem Drittel bzw. zur Hälfte mit Arbeitnehmervertretern besetzt sein. Nicht so bei Europäischen Aktiengesellschaften: Dort ist die Mitbestimmung Verhandlungssache. Dieser Status werde oft zulasten der Beschäftigten festgeschrieben, egal ob das Unternehmen weiter wachse, so Sick.

Unter den großen SE-Unternehmen befinden sich allein 45 in Familienhand – wie Sixt, die Schön Klinik oder die KMG Kliniken und die IT-Gruppe Allgeier – von denen 44, und damit fast alle, die paritätische Mitbestimmung vermeiden, so Sick. „Viele große Mitbestimmungsverweigerer kommen zudem aus dem Gesundheitssektor, der Wohnungswirtschaft und von Personaldienstleistern.“

Frauenquote ist in den SE-Unternehmen keine Pflicht

Die Entwicklung sei nicht nur für die Beschäftigten von Nachteil, sondern auch eine weitere Hürde für den Zugang von Frauen in die Vorstände und Aufsichtsräte, wie er gesetzlich für deutsche Unternehmen geregelt ist. „Diese Ungleichbehandlung läuft dem gesetzlichen Ziel zuwider, die Gleichstellung zu fördern“, so Sick.

So ist in großen Aktienunternehmen eine 30-Prozent-Besetzung des Aufsichtsrats mit Frauen Pflicht, ebenso die Besetzung eines Vorstands mit mehr als vier Personen von börsennotierten Unternehmen mit mindestens einer Frau. Nicht so für SE-Konzerne.

„Die meisten Verweigerer der Mitbestimmung sind oft auch keine Freunde von Betriebsräten und Tarifverträgen. Im Gegenteil. Viele betreiben Tarifflucht zulasten der Mitarbeiter.“

Manche SE-Unternehmen sind nicht europäisch aktiv

Grundsätzlich sollen Kapitalgesellschaften europäischen Rechts (SE) den Unternehmen die Möglichkeit erleichtern, europaweit tätig zu sein. Doch selbst das europaweite Geschäft scheint oft nur vorgeschoben. „Ein Viertel – 20 von 83 Unternehmen – aller großen deutschen SE ist entgegen deren eigentlichem Zweck ausschließlich oder überwiegend im Inland aktiv“, so die Analyse. „Dazu gehören die Deutsche Wohnen, Alloheim Senioren-Residenzen oder noch etwas kleiner die LEG Immobilien SE“, so Sick.

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Schlechte Bilanz: Kein Grund zum Feiern - es besteht Reformbedarf

Das nunmehr 20-jährige Bestehen der Europäischen Aktiengesellschaft ist deshalb auch „kein Grund zum Feiern“, sagt Daniel Hay, wissenschaftlicher Direktor des I.M.U. Studien zeigten, dass mitbestimmte Unternehmen sogar wirtschaftlich erfolgreicher seien und besser durch Wirtschaftskrisen kämen. Ziel müsse es deshalb sein, so Hay, „die Schwächen in der Gesetzgebung zu beheben, die es so einfach machen, die SE als Vehikel zur Mitbestimmungsvermeidung zu missbrauchen“.

Die Mitbestimmungsrechte sollten unabhängig von Rechtsformen verankert werden und mit der Zahl der Arbeitnehmer wachsen, fordern auch die Gewerkschaften von den europäischen und deutschen Gesetzgebern. Für andere europäische Länder ist die SE kein so großer Verlust, so Sick, „da es die paritätische Mitbestimmung so in der Form nur in Deutschland gibt“.