Ankara. Viele Türken fühlen sich unter Staatspräsident Recep Tayyip Erdogan nicht mehr heimisch. Sie suchen nach Wegen, das Land zu verlassen.

Ahnenforschung ist derzeit eine beliebte Beschäftigung in der Türkei. Nicht aus Neugier oder wissenschaftlichem Interesse, sondern aus ganz praktischen Gründen: Viele Menschen suchen unter ihren Vorfahren nach Bürgern heutiger EU-Staaten – weil sie auswandern wollen.

Auch Koray Kilic hat seinen Stammbaum zurückverfolgt. „Mein Urgroßvater lebte Ende des 19. Jahrhunderts im heutigen Rumänien“, erzählt der 32-jährige Familienvater. „Nach rumänischem Recht habe ich als Urenkel Anspruch auf die rumänische Staatsbürgerschaft, ich kann also EU-Bürger werden“, freut sich Kilic. Damit öffnet sich für ihn die Tür für ein Leben in Deutschland.

Erdogans Ideologie erschreckt viele

Koray Kilic und seine Frau Aysen sehen ihre Zukunft nicht mehr in der Türkei.
Koray Kilic und seine Frau Aysen sehen ihre Zukunft nicht mehr in der Türkei. © Koray Kilic | privat

Kilic ist als Kind türkischer Gastarbeiter in Köln geboren und aufgewachsen. Als er 13 war, ging die Familie zurück in die Türkei. Aber die Verbindungen zu Deutschland hat Kilic nie abreißen lassen. Er arbeitete in Istanbul für Firmen wie Siemens, SAP und Deichmann, heiratete vor sieben Jahren eine ebenfalls in Deutschland aufgewachsene türkische Jugendfreundin. Das Paar hat zwei Söhne, dreieinhalb Jahre und zwei Monate alt.

Jetzt planen Koray Kilic und seine Frau Aysen die Rückkehr nach Deutschland. „Nichts wie weg“, sagt Kilic. „Diese Regierung mischt sich mit ihrer islamisch-konservativen Ideologie immer stärker in unser Privatleben ein“, sagt der Familienvater und erklärt: „Unser Motto ist: Leben und leben lassen, jedem das Seine – aber das gilt in der Türkei nicht mehr.“

„Mit Demokratie hat das nicht mehr viel zu tun“

Beim Verfassungsreferendum am 16. April will Kilic mit Nein stimmen. Er hat sich informiert, weiß im Detail, worum es bei den 18 Änderungsartikeln geht: „Mit Demokratie hat das nicht mehr viel zu tun“, sagt er über das Präsidialsystem, das Staatschef Recep Tayyip Erdogan eine noch größere Machtfülle geben soll.

„Viele wissen gar nicht, worüber sie in dem Referendum entscheiden“, hat Kilic in seinem Bekannten- und Kollegenkreis festgestellt. „Die meisten werden aus reinem Erdogan-Fanatismus mit Ja stimmen.“ Kilic fürchtet: „Am Tag nach der Volksabstimmung wird Erdogan wohl erst richtig loslegen, egal wie das Ergebnis ausfällt.“

Türkei: Darum ist Erdogans Referendum so umstritten

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    Großer Betrieb in Online-Foren für Auswanderer

    Was ihn am meisten stört, sind die Veränderungen im Bildungswesen: Die Wertvorstellungen der islamischen Regierungspartei AKP zögen sich wie ein roter Faden durch die Lehrpläne, klagt Kilic. „Ich habe Vergleichsmöglichkeiten, weil ich das deutsche Bildungssystem kenne – das türkische, so wie es unter Erdogan geworden ist, möchte ich meinen Kindern nicht antun.“ Wenn er jetzt mit seiner Frau die Auswanderung vorbereite, „machen wir das vor allem für unsere Jungs“, sagt Kilic.

    Er ist nicht der einzige, der weg will. In den Auswanderer-Internetforen herrscht ein reger Meinungsaustausch. Koray Kilic kennt allein 15 Singles oder Familien in seinem Bekanntenkreis, die weg wollen. Fünf seien bereits umgesiedelt, nach Deutschland, Dänemark und in die Schweiz. Belastbare Statistiken zur Auswanderung gibt es nicht. Die türkische Regierung erfasst die Zahlen wahrscheinlich, veröffentlicht sie aber aus naheliegenden Gründen nicht.

    Türkei droht Verlust der besten Talente

    Über 7300 Akademiker verloren im Zuge der „Säuberungen“ nach dem Putschversuch ihre Arbeit. Viele von ihnen suchen jetzt Jobs im Ausland. Dass es vor allem junge, gut ausgebildete und weltoffene Leute sind, die nun ans Auswandern denken, könnte zu einem Problem werden: Dem Land droht ein Brain-Drain, der Verlust der besten Talente. Vor allem Türken, die schon einmal längere Zeit im Ausland waren, dort studiert haben oder dort aufgewachsen sind, spielen jetzt mit dem Gedanken, die Türkei zu verlassen.

    Koray Kilic kann es kaum erwarten. „Spätestens im August habe ich meinen rumänischen Pass“, hofft er. Bewerbungen an Firmen in Deutschland hat er bereits geschrieben. Am liebsten möchte er nach Köln, in seine alte Heimatstadt, oder nach Stuttgart, wo seine Schwiegermutter lebt. Er habe bei seiner Ahnenforschung „das große Los gezogen“, freut sich Kilic.

    Andere haben weniger Glück. Einer seiner Bekannten habe die Vorfahren über mehrere Generationen zurückverfolgt, erzählt Kilic. Dann sei er tatsächlich auf eine Auslandsverbindung gestoßen. Aber die Urgroßmutter war Perserin. „Da hat er natürlich eine Niete gezogen“, sagt Kilic mitleidsvoll.