Ankara. Beim türkischen Verfassungsreferendum hofft Staatschef Erdogan auf 60 Prozent Ja-Stimmen. Doch Umfragen zeichnen ein anderes Bild.

Die gut 55 Millionen Wahlberechtigten in der Türkei müssen sich noch bis zum 16. April gedulden. Aber etwa drei Millionen stimmberechtigte Auslandstürken dürfen schon früher zu den Wahlurnen gehen. Ihre Stimmen könnten den Ausschlag geben. Denn die Demoskopen erwarten ein knappes Ergebnis.

Seit Montag sind die Wahllokale für das Verfassungsreferendum in Deutschland, der Schweiz und Österreich sowie in Belgien, Frankreich und Dänemark geöffnet. In Deutschland können die etwa 1,4 Millionen wahlberechtigten Türken in neun konsularischen Vertretungen ihres Landes sowie vier weiteren Wahllokalen abstimmen.

Für Erdogan steht viel auf dem Spiel

In der Schweiz gibt es Wahlmöglichkeiten in Zürich, Genf und Bern, in Österreich in Wien, Salzburg und Bregenz. Die Stimmabgabe läuft bis zum 9. April. In anderen Ländern wie den USA, Großbritannien, den Niederlanden, Japan, China und Südafrika öffnen die Wahllokale erst Anfang April. Außerdem können Auslandstürken seit Montag an 31 Grenzübergängen, Flug- und Seehäfen ihre Stimme abgeben.

Türkei: Darum ist Erdogans Referendum so umstritten

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    Für Staatschef Recep Tayyip Erdogan steht viel auf dem Spiel. Nachdem das Parlament im Januar die Verfassungsänderung mit Dreifünftelmehrheit billigte, haben nun die Wähler das letzte Wort. Das neue Grundgesetz soll dem Präsidenten erheblich erweiterte Befugnisse geben. Er könnte das Land dann praktisch im Alleingang regieren.

    Nein-Lager führt leicht in den Umfragen

    „Erdogan will eine Diktatur verfassungsrechtlich kaschieren“, sagt Baris Yarkadas, Istanbuler Abgeordneter der größten Oppositionspartei CHP. „Aber die meisten Menschen wollen diese Zwangsjacke nicht, die Erdogan ihnen verpassen will“, meinte der 42-jährige Politiker im Gespräch mit dieser Redaktion.

    Noch gibt sich Erdogan siegesgewiss. Er hoffe auf 60 Prozent Ja-Stimmen, erklärte der Präsident vergangene Woche. Die Meinungsumfragen geben ein anderes Bild. Neun Umfragen sind seit Anfang März publiziert worden. Im Durchschnitt liegt das Ja-Lager bei 48,4 Prozent. Die Nein-Sager führen mit 51,5 Prozent. Allerdings tun sich die Demoskopen bei Volksabstimmungen mit Vorhersagen schwer – der Brexit lässt grüßen.

    AKP steht nicht geschlossen hinter Präsidialsystem

    Bei der Abstimmung im Parlament konnte sich Erdogan auf die Stimmen der Regierungspartei AKP und auf Teile der ultra-rechten MHP stützen. Aber die Anhänger dieser beiden Parteien stehen keineswegs geschlossen hinter dem geplanten Präsidialsystem, meint Bekir Agirdir, Chef des Meinungsforschungsinstituts Konda: „Ein Fünftel der AKP-Wähler ist von der Verfassungsänderung nicht überzeugt, und die Hälfte der MHP-Anhänger gehört zum Lager der Nein-Sager“, sagt Agirdir.

    Fällt das geplante Präsidialsystem bei dem Referendum durch, wäre das ein schwerer Rückschlag für Erdogan. Er zieht deshalb im Wahlkampf alle Register und setzt auf Polarisierung. Die Gegner der Verfassungsänderung diffamiert er als „Terroristen“ und „Staatsfeinde“. Teil dieser Strategie sind auch die Tiraden gegen ausländische Politiker.

    Referendum-Ergebnis erst in drei Wochen

    Die Europäer stigmatisiert Erdogan als „Faschisten“ und „Feinde der Türkei“, ausländische Journalisten als „Spione“. So hofft er die Reihen zu schließen und unentschlossene Wähler auf seine Seite zu ziehen. Ob die Strategie aufgeht, wird sich in drei Wochen zeigen.

    Reaktionen auf Erdogans Nazi-Vergleich

    Der türkische Präsident Recep Tayyip Erdogan schwingt die Demokratie-Keule: Nachdem mehrere Auftritte türkischer Politiker in Deutschland abgesagt worden waren, stellt er die deutsche Demokratie infrage und zieht den Nazi-Vergleich. „Eure Praktiken unterscheiden sich nicht von früheren Nazi-Praktiken“, sagte er bei einer Rede in Istanbul. „Deutschland, du hast in keiner Weise ein Verhältnis zur Demokratie und du solltest wissen, dass deine derzeitigen Handlungen nichts anderes sind als das, was in der Nazi-Zeit getan wurde.“
    Der türkische Präsident Recep Tayyip Erdogan schwingt die Demokratie-Keule: Nachdem mehrere Auftritte türkischer Politiker in Deutschland abgesagt worden waren, stellt er die deutsche Demokratie infrage und zieht den Nazi-Vergleich. „Eure Praktiken unterscheiden sich nicht von früheren Nazi-Praktiken“, sagte er bei einer Rede in Istanbul. „Deutschland, du hast in keiner Weise ein Verhältnis zur Demokratie und du solltest wissen, dass deine derzeitigen Handlungen nichts anderes sind als das, was in der Nazi-Zeit getan wurde.“ © REUTERS | MURAD SEZER
    Aydan Özoguz (SPD) mahnt: „Die Türkei sollte den Weg zurück finden zu ordentlichen diplomatischen Gesprächen.“ Die Staatsministerin für Integration sagte unserer Redaktion: „Völlig überzogene Anschuldigungen helfen jetzt niemandem weiter.“
    Aydan Özoguz (SPD) mahnt: „Die Türkei sollte den Weg zurück finden zu ordentlichen diplomatischen Gesprächen.“ Die Staatsministerin für Integration sagte unserer Redaktion: „Völlig überzogene Anschuldigungen helfen jetzt niemandem weiter.“ © dpa | Bernd von Jutrczenka
    CDU-Vize Armin Laschet betonte im ARD-Talk „Anne Will“: „Wenn Herr Erdogan unser Land weiter als Nazi-Land beschimpft, dann ist er hier unerwünscht.“
    CDU-Vize Armin Laschet betonte im ARD-Talk „Anne Will“: „Wenn Herr Erdogan unser Land weiter als Nazi-Land beschimpft, dann ist er hier unerwünscht.“ © dpa | Wolfgang Borrs
    „Das ist infam, abstrus, inakzeptabel und aufs Schärfste zurückzuweisen“, sagte der Bundesjustizminister Heiko Maas am Sonntagabend in der ARD-Talkshow „Anne Will“ zu Erdogans Nazi-Vergleich. Gleichzeitig mahnte Maas an, sich nicht provozieren zu lassen. „Wenn es darum geht, einen Wahlkampfauftritt zu verhindern, dann bleibt der Bundesregierung nur, ein Einreiseverbot zu erlassen – das ist genau das, was Erdogan jetzt will.“
    „Das ist infam, abstrus, inakzeptabel und aufs Schärfste zurückzuweisen“, sagte der Bundesjustizminister Heiko Maas am Sonntagabend in der ARD-Talkshow „Anne Will“ zu Erdogans Nazi-Vergleich. Gleichzeitig mahnte Maas an, sich nicht provozieren zu lassen. „Wenn es darum geht, einen Wahlkampfauftritt zu verhindern, dann bleibt der Bundesregierung nur, ein Einreiseverbot zu erlassen – das ist genau das, was Erdogan jetzt will.“ © dpa | Kay Nietfeld
    Der regierungskritische türkische Journalist Can Dündar warnte bei „Anne Will“ davor, Auftritte türkischer Minister in Deutschland aus politischen Gründen zu verbieten: „Der Staat darf nicht darüber entscheiden, wer das Rederecht hat – worum es auch immer geht.“ Dündar rief dazu auf, politisch gegen mögliche Wahlkampfauftritte zu protestieren. „Die Bürger sind aufgerufen, Position zu beziehen.“
    Der regierungskritische türkische Journalist Can Dündar warnte bei „Anne Will“ davor, Auftritte türkischer Minister in Deutschland aus politischen Gründen zu verbieten: „Der Staat darf nicht darüber entscheiden, wer das Rederecht hat – worum es auch immer geht.“ Dündar rief dazu auf, politisch gegen mögliche Wahlkampfauftritte zu protestieren. „Die Bürger sind aufgerufen, Position zu beziehen.“ © dpa | Wolfgang Borrs
    Als „absolut inakzeptabel“ verurteilte Kanzleramtsminister und Flüchtlingskoordinator der Bundesregierung, Peter Altmaier (CDU), Erdogans Vorwürfe. „Deutschland ist in puncto Rechtsstaatlichkeit, in puncto Toleranz und Liberalität nicht zu übertreffen“, sagte der CDU-Politiker am Montag im ARD-„Morgenmagazin“.
    Als „absolut inakzeptabel“ verurteilte Kanzleramtsminister und Flüchtlingskoordinator der Bundesregierung, Peter Altmaier (CDU), Erdogans Vorwürfe. „Deutschland ist in puncto Rechtsstaatlichkeit, in puncto Toleranz und Liberalität nicht zu übertreffen“, sagte der CDU-Politiker am Montag im ARD-„Morgenmagazin“. © dpa | Christina Sabrowski
    Der Bundesvorsitzende der Grünen, Cem Özdemir, bewertete die Äußerungen Erdogans am Montag in der ARD als irrational und mahnte dazu, kühlen Kopf zu bewahren. Er forderte die Bundesregierung aber auf, die Entscheidung über Wahlkampfauftritte türkischer Politiker in Deutschland nicht bei den Kommunen abzuladen. Am besten wäre eine gemeinsame, abgestimmte europäische Antwort auf diese Frage. Wenn türkische Politiker in Deutschland reden wollten, müssten sie sich an die Regeln und Gesetze halten.
    Der Bundesvorsitzende der Grünen, Cem Özdemir, bewertete die Äußerungen Erdogans am Montag in der ARD als irrational und mahnte dazu, kühlen Kopf zu bewahren. Er forderte die Bundesregierung aber auf, die Entscheidung über Wahlkampfauftritte türkischer Politiker in Deutschland nicht bei den Kommunen abzuladen. Am besten wäre eine gemeinsame, abgestimmte europäische Antwort auf diese Frage. Wenn türkische Politiker in Deutschland reden wollten, müssten sie sich an die Regeln und Gesetze halten. © dpa | Oliver Berg
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