Athen. Präsident Erdogan lässt weiter Tausende Türken verhaften. Nun wird auch die Präsidentengarde verdächtigt, zu seinen Gegnern zu gehören.

Der türkische Präsident Recep Tayyip Erdogan bringt nach dem vor einer Woche gescheiterten Putschversuch Staat und Gesellschaft immer stärker unter seine Kontrolle. Vor allem in den Streitkräften stehen tiefgreifende Veränderungen an. Sie sollen „umstrukturiert“ und „mit frischem Blut“ versorgt werden, kündigte Erdogan in einem Interview mit der Nachrichtenagentur Reuters an. Ein für Anfang August geplantes Treffen des Obersten Militärrates (YAS), bei dem traditionell alljährlich über Beförderungen bei den Streitkräften entschieden wird, soll auf den kommenden Donnerstag vorgezogen werden. Die Konferenz wird nicht im Gebäude des Generalstabs stattfinden, wo der YAS normalerweise tagt, sondern im Präsidentenpalast. Den Vorsitz will Erdogan selbst führen, anstelle von Premierminister Binali Yildirim.

Bisher hat Erdogan 123 Generäle und Admiräle sowie Hunderte Offiziere der höheren Ränge entlassen. Es dürfte bei den anstehenden Beförderungen nicht nur darum gehen, Erdogan-treue Offiziere in Schlüsselpositionen zu bringen. Ziel der Regierung wird es wohl auch sein, die Befugnisse des Generalstabs zu beschneiden und das Militär stärker unter Regierungskontrolle zu bringen. Im Rahmen der Umstrukturierungen soll auch die Präsidentengarde aufgelöst werden, kündigte Premierminister Yildirim an. Es gebe „keine Notwendigkeit mehr“ für die Einheit. Hintergrund ist, dass es auch in der Präsidentengarde Putschvorbereitungen gegeben haben soll. 283 Soldaten der Spezialeinheit wurden festgenommen.

11.000 Reisepässe für ungültig erklärt

Seit dem Putschversuch hat Erdogan über 60.000 Soldaten, Richter, Polizisten, Staatsbeamte, Lehrer und Wissenschaftler suspendieren lassen. Bisher seien 13.165 Menschen festgenommen worden, sagte Erdogan am Sonntag in einer landesweit übertragenen Rede. Davon seien 8838 Soldaten, 2101 Richter und Staatsanwälte, 1485 Polizisten, 52 örtliche Beamte und 689 Zivilisten, so Erdogan. Rund 11.000 Reisepässe wurden für ungültig erklärt. Staatsbedienstete dürfen nur noch ausreisen, wenn sie an der Passkontrolle eine Unbedenklichkeitsbescheinigung ihrer Behörde vorlegen können. Das gilt auch für Familienangehörige. Für die entlassenen Lehrer sollen bis zum Herbst 20.000 Pädagogen neu eingestellt werden, kündigte Erziehungsminister Ismet Yilmaz am Sonntag an.

Erdogan machte bereits am Wochenende regen Gebrauch von der Möglichkeit, unter dem vergangene Woche ausgerufenen Ausnahmezustand mit Dekreten zu regieren. Die Polizei kann jetzt Verdächtige bis zu einem Monat ohne richterlichen Beschluss in Gewahrsam nehmen, statt bisher höchstens 48 Stunden. Außerdem ordnete Erdogan die Schließung von 934 Privatschulen, 105 Studentenheimen, 15 Privatuniversitäten, 35 privaten Kliniken, 1225 Stiftungen und 19 Gewerkschaften an. Es handelt sich überwiegend um Einrichtungen, die der Bewegung des in den USA lebenden islamischen Predigers Fethullah Gülen zugerechnet werden.

Erdogan und Gülen waren noch in den 2000er Jahren enge Verbündete, vor allem bei dem Bestreben, die alten kemalistischen Eliten in der Justiz, der öffentlichen Verwaltung und bei den Sicherheitskräften durch eigene, religiös geprägte Leute zu ersetzen. So gelangten zehntausende Gülen-Anhänger in Schlüsselpositionen. Vor etwa drei Jahren kam es zum Bruch: Gülen wurde Erdogan zu mächtig, er verdächtigte ihn, eine „Parallelstruktur“ aufzubauen und seinen Sturz zu planen. Heute sieht Erdogan in Gülen seinen Erzfeind. Der türkische Europaminister Ömer Celik erklärte am Wochenende sogar, Gülen sei „gefährlicher als Osama bin Laden“.

Erdogan entledigt sich auch früherer Vertrauter

Während sich die Türkei in den USA um eine Auslieferung Gülens bemühen, nahmen Fahnder am Wochenende in der Schwarzmeerstadt Trabzon Hails Hanci fest, der als „rechte Hand“ Gülens gilt. Hanci sei zwei Tage vor dem Putschversuch aus den USA in die Türkei eingereist, teilten die Ermittler mit. Unterdessen wurde in der Provinz Erzurum ein Neffe Gülens festgenommen. Das osttürkische Erzurum gilt als Hochburg der Gülen-Bewegung.

Die Säuberungen betreffen auch frühere Erdogan-Vertraute. Bereits kurz nach dem Putschversuch hatte der Präsident einen seiner engsten Militärberater festnehmen lassen. Jetzt muss möglicherweise auch Geheimdienstchef Hakan Fidan um seinen Posten bangen. Fidan soll schon Tage vor dem versuchten Umsturz von verdächtigen Aktivitäten im Militär erfahren haben. Diese Hinweise konkretisierten sich offenbar am Nachmittag des 15. Juli, wenige Stunden vor dem Putschversuch. Fidan informierte daraufhin den türkischen Generalstabschef, nicht aber Erdogan, der von dem Putsch nach eigener Aussage von seinem Schwager erfuhr und dann vergeblich versuchte, Fidan zu erreichen. Erdogan sagte, es habe vor dem Putschversuch „erhebliche Lücken und Schwächen“ im Geheimdienst gegeben. „Ich habe das der Spitze des nationalen Geheimdienstes gesagt“, erklärte Erdogan. Fidan bleibt dennoch vorerst im Amt. Es sei nicht sinnvoll, „mitten im Rennen die Pferde zu wechseln“, sagte Erdogan am Wochenende in einem Interview. Fidan galt bisher als ein enger Vertrauter Erdogans. Er war ihm eine wichtige Stütze bei der Niederschlagung der Ende 2013 aufgekommenen Korruptionsvorwürfe. Es dürfte in der Türkei nur wenige Menschen geben, die so viel über Erdogan wissen wie der Geheimdienstchef.

Erdogan: EU halte Türkei seit 53 Jahren hin

Ungeachtet der Kritik in Europa hält Erdogan an seinen Plänen zur Wiedereinführung der Todesstrafe fest. In dem Reuters-Interview verwies der Präsident zur Rechtfertigung darauf, auch in den USA, Russland und China gebe es die Todesstrafe. Dass die EU bei einer Rückkehr zur Todesstrafe die Beitrittsverhandlungen mit Ankara abbrechen könnte, scheint Erdogan nicht zu beeindrucken. Die EU lassen die Türkei „seit 53 Jahren vor der Tür warten“, sagte Erdogan, obwohl sein Land „wirtschaftlich sowie hinsichtlich der Grundrechte und Freiheit fortschrittlicher“ sei als irgendeines der in den vergangenen Jahren neu der EU beigetretenen Länder.