Wolfsburg. Über Jahrzehnte sollen sich die größten deutschen Autobauer intensiv abgesprochen haben.

Unser Leser, der sich „Verwundert“ nennt, schreibt auf unseren Internetseiten:

Warum reicht VW ausgerechnet zu dieser Zeit diesen Schriftsatz ein – will man die gesamte Branche jetzt ins Verderben laufen lassen?

Dazu recherchierten Christina Lohner und Matthias Thieme

Auch das noch – eine Selbstanzeige von VW mitten im Diesel-Skandal. „Es riecht nach einem kollektiven Selbstmordversuch in der deutschen Autoindustrie“, schreibt unser Leser. Ausgerechnet der VW- und der Daimler-Konzern, der zurzeit ebenfalls unter Betrugsverdacht steht, sollen sich gegenüber den Kartellwächtern selbst beschuldigt haben. Der Versuch, dass nicht nur die beiden im Rampenlicht stehen? In jedem Fall können Kronzeugen ihre Geldbußen für illegale Absprachen senken. Das Bundeskartellamt erlässt sie manchen Kartellsündern sogar komplett. Die VW-Tochter MAN zum Beispiel kommt beim LKW-Kartell ungeschoren davon.

Die „Art Selbstanzeigen“, von denen der „Spiegel“ berichtet, erreichten die Behörden allerdings nicht erst jetzt. Zwei Wochen nachdem im Juni 2016 unter anderem VW-Räume wegen des Verdachts auf Absprachen beim Stahl-Einkauf durchsucht worden waren, soll Volkswagen sich beim Bundeskartellamt selbst angezeigt haben. Denn die Ermittler hätten in dem beschlagnahmten Material Hinweise auf das „Autokartell“ gefunden. Dieses könnte auch eine entscheidende Rolle im Abgas-Skandal spielen.

Das Magazin beruft sich auf Recherchen bei den Kartellwächtern in Brüssel und Bonn, bei Herstellern sowie aktiven und ehemaligen Managern. Die Abstimmung zwischen den fünf Marken Audi, BMW, Daimler, Porsche und VW war demnach bestens organisiert. Neben Arbeitskreisen soll es sogar Unterarbeitskreise gegeben haben, gegliedert nach den Entwicklungsbereichen Antrieb, Elektronik oder Gesamtfahrzeug – intern „5er-Kreise“ genannt, 60 an der Zahl. Allein in den vergangenen fünf Jahren soll es laut Volkswagens eingereichtem Schriftsatz mehr als 1000 entsprechende Sitzungen gegeben haben. Dabei ging es offenbar nicht um erlaubte Absprachen zu Autoteilen, die nicht wettbewerbsrelevant sind.

Am 5. April 2006 beschlossen die Hersteller dem Bericht zufolge ein „abgestimmtes Vorgehen“ in Bezug auf die Größe von Ad-Blue-Tanks. Mit der Harnstofflösung lassen sich Abgase reinigen. Im September 2008 einigten sich Daimler, Audi, BMW und VW auf die Einführung eines Acht-Liter-Tanks, schreibt das Magazin – leichtes Gewicht, niedriger Preis und genug Platz im Kofferraum.

Ein kleinerer Kofferraum hätte gerade auf dem US-Markt einen großen Nachteil bedeutet, wie es im „Statement of Facts“ des US-Justizministeriums heißt, dem sich der VW-Konzern angeschlossen hat. 2010 einigten sich die Hersteller anscheinend auf 16-Liter-Tanks für die USA. Laut „Spiegel“ verlangten die US-Behörden, dass die Tanks erst nach 16 000 Kilometern aufgefüllt werden müssen. Sie drohten sogar, die Fahrzeuge nicht mehr zuzulassen.

Die Marketing-Abteilungen der Autobauer waren gleichzeitig gegen zu große Tanks. Die Lösung: eine geringere Abgasreinigung auf der Straße als auf dem Prüfstand. In einer Mail von 2014 warnte Audi dem Bericht zufolge vor Alleingängen. Hätte ein Hersteller größere Tanks eingebaut, hätten Behörden misstrauisch werden können.

Die Ad-Blue-Tanks sind auch der Punkt, zu dem Ex-VW-Konzernchef Martin Winterkorn im Abgas-Untersuchungsausschuss des Bundestages schwieg. Er, der Ingenieur und Perfektionist, habe diese Diskrepanz also nie wahrgenommen, hatte Arno Klare (SPD) ungläubig gefragt. Er hatte Winterkorn vorgerechnet, dass die Harnstofflösung bei der Tankgröße viel öfter hätte nachgefüllt werden müssen als in den üblichen Werkstatt-Intervallen alle 30 000 Kilometer. „Es war keiner bei mir, der sagt, er bringt die Menge nicht unter“, sagte Winterkorn.

Anwälte sehen nun die Wende in der Diesel-Affäre in Europa: „Den Automobilherstellern drohen erstmals schmerzhafte Sanktionen“, sagte Anwalt Christopher Rother von der Kanzlei Hausfeld, die nach eigenen Angaben zigtausende betroffene Kunden vertritt: eine Geldbuße von bis zu zehn Prozent ihres jeweiligen Konzernumsatzes. „In Anbetracht der Unverfrorenheit, die ein Unternehmen wie Volkswagen gegenüber ihren Kunden und der Öffentlichkeit an den Tag gelegt hat, bleibt zu hoffen, dass die EU-Kommission jetzt mit der ganzen Härte des Gesetzes gegen die Automobilhersteller vorgeht und die Bußgeldrahmen voll ausschöpft.“ Erst wenn es richtig ans Geld gehe, werde ein Umdenken beginnen.