Hannover. Der Leiter der Beratungsstelle gegen Radikalisierung erklärt, dass der Umgang mit extremem Islamismus an Schulen und Kindergärten ein Thema sein muss.

Vor rund zwei Wochen hat das Land Niedersachsen einen Salafisten-Verein in Hildesheim verboten, unter anderem sollen dort junge Männer und Frauen radikalisiert worden sein. Auch aus Wolfsburg und Braunschweig sind in den vergangenen Jahren Islamisten in den Krieg nach Syrien gezogen, um sich dem sogenannten Islamischen Staat anzuschließen. Wer sind diese jungen Menschen? Was macht sie anfällig für salafistische Botschaften? Mit dem Leiter der Präventionsstelle gegen salafistische Radikalisierung in Niedersachsen, Christian Hantel, sprach Katrin Schiebold.

Herr Hantel, Wolfsburg, Hildesheim, Braunschweig – warum hat sich gerade in diesen Städten eine lebhafte islamistische Szene entwickelt?

Uns wird immer wieder die Frage gestellt: Warum Wolfsburg? Warum Hildesheim? Warum ziehen Jugendliche aus der niedersächsischen Provinz in den Krieg? Dabei ist es oft Zufall, wo sich salafistische Zentren bilden. Es hängt auch damit zusammen, wo sich Moscheeräume anmieten lassen und charismatische Persönlichkeiten predigen. Ob diese nun in einer kleineren oder in einer Großstadt aktiv sind, spielt in Zeiten des Internets ohnehin keine Rolle. Ihre Botschaften verbreiten sich online rasend schnell.

„Erzieherinnen melden sich, weil ein Mädchen vollverschleiert in den Kindergarten kommt.“
„Erzieherinnen melden sich, weil ein Mädchen vollverschleiert in den Kindergarten kommt.“ © Christian Hantel, Leiter der Beratungsstelle gegen salafistische Radikalisierung

Wer sucht denn in erster Linie Hilfe bei Ihrer Beratungsstelle?

Zum einen sind es verzweifelte Eltern, die beobachten, wie sich ihr Kind zurückzieht. Plötzlich geht es nicht mehr ins Fitnessstudio, sondern in die Moschee, trägt weite Kleidung oder einen Schleier, obwohl Religion in der Familie bis dahin keine entscheidende Rolle gespielt hat. Es können auch Mitarbeiter der Jugendhilfe sein, die ein Kind betreuen und auf einmal eine Veränderung feststellen – oder Lehrer, die beobachten, wie sich ein Schüler zurückzieht.

Sie haben also nur selten mit den Betroffenen selbst zu tun?

In unter zehn Prozent der Fälle haben wir tatsächlich direkten Kontakt zu den Betroffenen. Je radikalisierter sie sind, desto schwieriger ist auch der Zugang. Wir versuchen vor allem, das Umfeld zu stützen und zu beraten – Familie, Freunde und Bekannte. Sie sind entscheidend dafür, ob jemand den Sprung aus der Szene schafft oder nicht.

Wer ist denn besonders anfällig für radikale Botschaften?

Viele denken, dass es vor allem junge muslimische Männer aus der Unterschicht sind, die schnell ins Ultra-Religiöse abdriften. Doch das greift zu kurz und geht an der Realität vorbei. Jeder kann sich radikalisieren: Auch Kinder von Ärzten, Lehrern oder Polizisten. Radikale Botschaften fallen dort auf fruchtbaren Boden, wo es Brüche in der Biografie gibt. Das ist kein gradliniger Prozess. Oft liegen einer Radikalisierung Gewalterfahrungen zugrunde, Konflikte in der Familie, spannungsvolle Verhältnisse zu den Eltern oder fehlende Perspektiven. Es handelt sich um Menschen, die labiler sind. Wer ein intaktes soziales Umfeld hat, braucht keine Ersatz-Familie, und der ist für radikale Ideologien weniger empfänglich.

Bei der Hälfte der Fälle, die wir betreuen, geht es übrigens um Konvertiten – also um Nicht-Muslime, die dem Islam beigetreten sind. Auch sind es längst nicht nur Männer, die sich für salafistische Botschaften begeistern. Bei 28 Prozent der betreuten Fälle haben wir es mit jungen Frauen zu tun. Der Salafismus gibt den Jugendlichen die Möglichkeit, zu provozieren und gegen die Mehrheitsgesellschaft zu protestieren.

Wir haben es hier also auch mit einer neuen jugendlichen Protest-Bewegung zu tun?

Ja, unter anderem. Es geht aber auch um Halt und Orientierung: Kinder einer entgrenzten Gesellschaft suchen nach einer Begrenzung. Die Jugendlichen treten aus einer komplizierten postglobalen Welt in ein geregeltes, strukturiertes Umfeld. Sie finden Zusammenhalt und eine Gemeinschaft, die einfache Antworten auf komplexe Fragen bietet. Zynischerweise sind Salafisten oft die besseren Sozialarbeiter, weil sie jungen Menschen das Gefühl geben, Teil einer exklusiven, elitären Gruppe zu sein.

Häufig kommen die Betroffenen übrigens aus Elternhäusern, in denen Religion keine große Rolle spielt. Von Salafisten-Predigern hören sie das erste Mal etwas über den Islam und nehmen die fundamentalistische Auslegung als „Wahrheit“ an. Im Internet stoßen sie außerdem ganz leicht auf hochemotionalisierende Inhalte, zugespitzte Botschaften, islamistische Kriegspropaganda.

Welche Möglichkeiten gibt es, diese Jugendlichen zu erreichen und Wege aus der Radikalisierung aufzuzeigen?

Es ist schon viel gelungen, wenn sich die Eltern trauen, sich bei uns zu melden – je frühzeitiger, desto mehr können wir tun. In einem Fall hatten wir es zum Beispiel mit einem Mädchen zu tun, das sich zunehmend zurückzog; irgendwann ging sie nur noch verschleiert aus dem Haus. Im Gespräch fanden wir heraus, dass vor allem die Beziehung zu ihrem Vater gestört war. Wir haben mit ihm erarbeitet, wie er das Vertrauen zurückgewinnen und verstärkt etwas mit seiner Tochter unternehmen kann. Das hat geholfen.

Auch die aufgeklärte Auseinandersetzung mit dem Glauben spielt eine große Rolle: Wo Religion gelebt wird, sind Jugendliche weniger gefährdet. Moscheevereine sollten ebenfalls einen wichtigen Beitrag zur religiösen Erziehung leisten und gegebenenfalls erkennen, ob ein Jugendlicher in ein radikales Umfeld abdriftet. Wie in den Schulen und Kindergärten müssen die Mitarbeiter zunehmend sensibilisiert werden, um Prozesse der Radikalisierung zu erkennen.

Radikalisierung fängt schon im Kindergarten-Alter an?

Ja, wir betreuen auch Fälle, in denen es um Fünfjährige geht. Erzieherinnen melden sich zum Beispiel, weil ein kleines Mädchen vollverschleiert in die Einrichtung kommt oder sich weigert, gemeinsam mit anderen zu singen und zu tanzen. In den kommenden Jahren wird uns die zweite Generation der Salafisten vermehrt beschäftigen, also diejenigen, die sich radikalisiert haben und Eltern geworden sind. Sie geben ihre Weltsicht an ihre Kinder weiter. Wir müssen Erzieher und Lehrer dafür sensibilisieren. Sie müssen auch eine entsprechende Haltung entwickeln, wenn es um den Umgang mit den Auffälligkeiten geht.

Der Staat ist zuletzt mehrfach gegen radikale Islamisten vorgegangen. Sind Verbote im Kampf gegen die Radikalisierung sinnvoll?

Natürlich ist es besser, vorsorglich tätig zu werden – bevor ein Radikalisierungs-Prozess eingesetzt hat. Prävention ist ein ergänzendes Instrument, wir brauchen auch klare Grenzen. Der Staat muss einschreiten, wenn Grundrechte verletzt werden. Radikale, menschenverachtende Botschaften und den Aufruf zu Gewalt darf er nicht dulden.