Berlin. Auch deutsche Frauen schließen sich dem IS an. Die meisten erziehen ihre Söhne zu Kämpfern. Einige werden gewalttätig – wie die 15-jährige Safia.

Unser Leser Dirk Volkmann aus Königslutter fragt:

Wie ist das Rollenbild der Frau im Salafismus?

Die Antwort recherchierten Ulrich Kraetzer und Christian Unger

Die Frauen wollen den Kampf gegen die Ungläubigen nicht ihren Männern überlassen. Also organisieren sie sich. Über die sozialen Netzwerke suchen sie Anhänger, die Bücher von radikalen Predigern übersetzen, die Bilder für ihre Propaganda im Internet gestalten und salafistische Botschaften auf Facebook posten. „Noorul Huda Media“ nennen die Frauen ihr Team, das nach eigenen Angaben aus 30 Mitgliedern besteht. Und für das sie neue Mitstreiterinnen suchen.

Sie werben auch für Predigten des Islamisten Abu Walaa, der kürzlich verhaftet wurde. Ihm wird vorgeworfen, die Terrorgruppe „Islamischer Staat“ zu unterstützen. Sie übersetzen Schriften von Al-Qaida-Funktionär Anwar al-Awlaki. Hass sähen, die Gesellschaft aufteilen in Gläubige und Ungläubige, die salafistischen „Schwestern“ stärken: Das sind einige der Ziele, die sich die Gruppe gesteckt hat. Die Schwestern kämpfen ihren eigenen, digitalen Dschihad, mit Worten. Ohne Gewalt.

Safia S. ging weiter. Im Februar 2016 hatte das Mädchen im Hauptbahnhof Hannover einen Polizisten mit einem Messer schwer verletzt. Safia war da gerade 15 Jahre alt. Es war das brutale Ende einer langen Karriere der Radikalisierung, die schon mit sieben Jahren an der Seite ihrer Mutter und des Islamisten Pierre Vogel begonnen hatte. Safia S. gilt zudem als Sympathisantin der Terrororganisation „Islamischer Staat“. Ein Gericht in Celle verurteilte das Mädchen am Donnerstag zu sechs Jahren Haft.

Extremistische Familienarbeiterinnen

Allein die Bundesanwaltschaft hatte 2016 rund 240 Verfahren eingeleitet. Bei den meisten geht es um islamistisch motivierten Terror. Fast alle Angeklagten sind Männer. Und doch spielen Frauen in der islamistischen Szene eine wichtige Rolle: Sie vernetzen sich über das Internet, rekrutieren Szene-Mitglieder, dienen den Männern, den „Märtyrern“ und „Löwen“, erziehen ihre Kinder nach den Regeln der Scharia.

Islamistinnen sind „extremistische Familienarbeiterinnen“, sagt Diana Schubert, Geschäftsführerin vom Kriminalpräventiven Rat Augsburg. Der Verfassungsschutz warnt: Dschihadistinnen werben Frauen für den IS an. Safia S. schaffte es bis in die Türkei.

Kriminalpolizisten analysierten die Biografien von Hunderten Islamisten, die aus Deutschland nach Syrien ausreisten. 21 Prozent waren Frauen, im Durchschnitt 23 Jahre alt, mehr als die Hälfte hat ein oder mehrere Kinder. Aber 13 Prozent waren nicht einmal 18.

Doch was die Frauen in Syrien machen, darüber wissen die Sicherheitsbehörden wenig. Ermittler haben keine Beweise, dass sich eine Deutsche an Kämpfen für den IS beteiligt hat. Sie wissen auch nicht, ob eine Ausreisende in Syrien durch Angriffe der Alliierten gestorben ist. Die Erkenntnisse sind dünn. Aber Gespräche mit Wissenschaftlern, Polizisten und auch Szene-Mitgliedern geben einen Einblick in die Welt der „Schwestern im Dschihad“.

In der elften Ausgabe des IS-Propaganda-Magazins „Dabiq“ schreibt eine Islamistin unter der Überschrift „Ein Dschihad ohne Kampf“ ihren „Schwestern“: Zwar hätten Musliminnen keine Pflicht zum Dschihad oder Krieg, außer zur Selbstverteidigung, doch das schmälere nicht ihre Rolle beim Aufbau der „Ummah“, der Gemeinschaft der Muslime: „Männer produzieren, und diese auszusenden in die Härte der Schlacht“.

In dem Messenger-Kanal „Tagebuch einer Muhajira“ postete mutmaßlich eine Islamistin quasi im Live-Blog aus dem IS-Gebiet. Mal ging es in ihren Nachrichten an die „Schwestern in Deutschland“ um das Wetter oder das Essen. Dann verteidigte sie Gewalt: Das Nehmen „von Sklaven durch den Krieg ist ein Teil unserer Religion und wurde so vom Propheten“ praktiziert.

Online-Shops bieten Nikab-Gewänder oder Parfüm ohne Alkohol an. „Schwestern“ organisieren ihre eigenen „Spenden-Galas“ und versteigern Schmuck und Handys für Kinder in Syrien. Als noch 2014 hunderte Islamisten aus Europa weitestgehend ohne Verfolgung durch Polizei oder Justiz in den „Heiligen Krieg“ zogen, bot die Webseite Jihad Matchmaker jungen Frauen online Ehen mit Dschihadisten in Syrien an. Heute sitzen viele Dschihadisten in Haft oder stecken im Krieg fest. „Free Safia“, heißt es auf einer Webseite. „Solidarität mit unserer Schwester“. Sie ist eine Ikone der neuen Islamisten-Generation.

Eine Frau aus der alten Garde der Dschihadistinnen bittet in ihre Wohnung in Berlin-Spandau, zumindest in den Flur, die Nachbarn müssen ja nicht alles mitbekommen. Sabine Kretschmann, die eigentlich anders heißt, konvertierte zum Islam, besuchte die berüchtigte Al-Nur-Moschee in Neukölln – und reiste schon 2009 mit ihrem Ehemann in den Dschihad in das Grenzgebiet zwischen Pakistan und Afghanistan. Al-Qaida und andere Terrorgruppen betrieben dort Ausbildungs-camps.

Was Kretschmann dort genau unternahm, ist unklar. Ihr Ehemann sitzt in Untersuchungshaft, angeklagt wegen des Verdachts der Mitgliedschaft in einer Terrorgruppe. Kretschmann trägt ein braunes Gewand, ein hellblaues Kopftuch, aber keinen Gesichtsschleier. Ihre blauen Augen schauen einen freundlich an, in einem Nebenzimmer spielen zwei Kinder. Später sollen sie und ihr Mann auch in Syrien gewesen sei. Doch über all das spricht die junge Mutter nicht. Sie sagt nur: Ihre Kinder seien „auf dem Boden der Ehre“ geboren. Und die heute 25-Jährige sagt, dass sie damals „sehr jung“, „sehr naiv“ und „sehr emotional“ gewesen sei. „Jetzt ist es Zeit für ein neues Kapitel.“ Deshalb bittet sie immer wieder, doch bitte den Nachbarn nichts zu erzählen. Könne man ausführlich sprechen? Sabine Kretschmann überlegt. Die Medien würden ja so vieles verdrehen, beklagt sie sich. Es wäre ihr lieber, man würde jetzt ihre Wohnung verlassen.

Der Dschihad ist auch eine Flucht vor Konflikten

Die Berlinerin komme aus einer reichlich zerrütteten Familie, heißt es. Und sie hatte, wie so viele, die den gleichen Weg einschlugen, offenbar das Gefühl, in ihrem Umfeld, in der „westlichen“ Gesellschaft, keinen Platz zu finden. Menschen wie Schubert aus Augsburg und Claudia Dantschke, Leiterin der Beratungsstelle Hayat, sehen häufig diese Motive.

Beide arbeiten auch mit radikalisierten Frauen und deren Familien. Die Reise in den Dschihad ist oft auch eine Flucht: vor Konflikten mit den Eltern, vor schlimmen Erfahrungen wie Mobbing oder Rassismus, vor Langeweile, vor eigenem Versagen in der Schule oder im Beruf. Die Salafisten bieten einen Ausweg. Auf den ersten Blick. Organisationen wie der IS würden sich als „elitäre islamistische Bewegung ausgeben“, sagt Schubert. Sie nennt den IS nur „Daesh“, weil sie nicht vom Staat sprechen will. Junge Frauen leben wie die Männer ihre Allmachtfantasien aus: die „Auserwählten“ gegen die „Ungläubigen“.

Vor allem Naivität präge das Bild vom Leben beim IS, sagt Dantschke von Hayat. Seit vielen Jahren betreut ihr Verein auch Eltern, hört Geschichten von deren Töchtern, die in Syrien sind. Bekannt wurden die sogenannten Frauenhäuser des IS, in denen neu Ankommende auf ihre Heirat mit einem Kämpfer warten. Das seien „eher Frauengefängnisse“, sagt Dantschke.

Die Mädchen müssten gleich am Anfang ihre Handys abgeben. Es gebe Berichte über zu wenig Essen für die Kinder, überall solle es schmutzig sein. „Irgendwann wollen die jungen Frauen da nur noch raus.“ Dantschke hörte Berichte über Vergewaltigungen von Frauen in ihren Ehen, Kämpfer halten sich Frauen als „Sex-Sklavinnen“. Der IS übe zudem heftigen psychischen Druck auf: „Sie sagen den Mädchen, dass ihnen dort zehn Jahre Haft blühen. Und dass sie zum Christentum gezwungen würden.“

Die einstige Vorstellung, sich als Lehrerin, Krankenschwester oder Propaganda-Aktivistin für den IS einzusetzen, erfülle sich nur in sehr wenigen Fällen, sagt auch Schubert vom Kriminalpräventiven Rat Augsburg. „Viele Mädchen kommen depressiv zurück aus dem Kriegsgebiet“, sagt sie. Manche leiden unter Vitaminmangel. Ihnen fehlte Sonne. Die Kämpfer des IS ließen sie nie aus ihren Häusern.

Stationen im Leben von Safia S.:

Die islamistische Radikalisierung der Jugendlichen Safia S. aus Hannover beginnt lange vor ihrer Messerattacke auf einen Polizeibeamten im Februar 2016. Stationen ihres Lebens:

2. Juli 2000: Safia wird als Tochter eines deutschen Vaters und einer marokkanischen Mutter in Hannover geboren. Die Eltern trennen sich schon früh, die Mutter erzieht ihre Kinder nach Darstellung des Vaters streng religiös.

2008: Auf Youtube ist Safia mit dem Salafistenprediger Pierre Vogel beim Rezitieren des Korans zu sehen, als „Unsere kleine Schwester im Islam“ präsentierte der Extremist die damals Siebenjährige.

2009: Pierre Vogel veröffentlicht auf Youtube einen weiteren gemeinsamen Auftritt mit Safia, die schwarz verhüllt mit Kopftuch vor der Kamera sitzt.

2015/2016: Safia fällt auch in ihrem Gymnasium mit islamistischen Ansichten auf. Ihr Klassenlehrer stößt auf die Videos von ihr und dem Salafistenprediger. Der Lehrer informiert den Schulleiter, der Kontakt zu Polizei und Staatsschutz suchte.

22. Januar 2016: Unbemerkt und ohne, dass jemand am Flughafen Hannover Fragen stellt, besteigt Safia einen Flug nach Istanbul. Ihr Ziel: Die Terrormiliz Islamischer Staat in Syrien. In Istanbul nimmt sie laut Anklage Kontakt zu IS-Mitgliedern auf, die sie über die Grenze bringen sollen.

26. Januar 2016: Safias Mutter, die ihrer Tochter nach Istanbul hinterher gereist ist und die Behörden über die befürchtete Radikalisierung informiert hat, holt das Kind zurück und landet in Hannover. Fahnder erwarten die zwei und kassieren Safias Handys ein.

25. Februar 2016: Über einen Internet-Nachrichtendienst hat Safia nach Erkenntnis der Ermittler Kontakt zu IS-Mitgliedern und übermittelt auf diesem Weg ein Bekennervideo für die für den nächsten Tag geplante Tat.

26. Februar 2016: Vormittags werden Polizeibeamte nach den Hinweisen aus der Schule in Safias Gymnasium vorstellig. Nachmittags provoziert Safia im Hauptbahnhof Hannover mit auffälligem Verhalten eine Kontrolle durch zwei Bundespolizisten. Unvermittelt rammt die Schülerin einem 34-jährigen Polizisten ein Gemüsemesser oberhalb seiner Schutzweste in den Hals. Der Kollege überwältigt das Mädchen. Der Beamte überlebt schwer verletzt.

12. August 2016: Die Bundesanwaltschaft erhebt Anklage gegen Safia wegen versuchten Mordes, gefährlicher Körperverletzung und Unterstützung einer ausländischen terroristischen Vereinigung.

20. Oktober 2016: Prozessbeginn am Oberlandesgericht Celle. (dpa)