Braunschweig. Vor 70 Jahren ging das Land Braunschweig in Niedersachsen auf: Am historischen Kabinettstisch debattierten Stephan Weil und Vertreter der Region.

„Ich bin nur der Tischgeber“, witzelte Hausherr Jochen Luckhardt. Auf Einladung unserer Zeitung diskutierte eine hochkarätige Runde im Herzog-Anton-Ulrich-Museum über 70 Jahre Braunschweiger Land in Niedersachsen. Die Moderation hatte Chefredakteur Armin Maus.

An diesem Tisch hat (am 21. November 1946, die Red.) die letzte Kabinettssitzung im Land Braunschweig stattgefunden. Was ist mit dieser Zäsur geschehen? Herr Weil, was ist diese Region für Sie als Landesvater?

Stephan Weil, Ministerpräsident (SPD): Zunächst einmal ist es eine der niedersächsischen Kernregionen mit einer eigenen Geschichte, eigenen Kultur, eigenen Traditionen, einer eigenen Identität. Niedersachsen darf man nicht über einen Kamm scheren, wir sind so etwas wie Föderalismus innerhalb des Föderalismus. Das Braunschweiger Land hat sich ein eigenes Profil gegeben. Es ist die Mobilitätsregion in Niedersachsen und weit über Niedersachsen hinaus. Und es ist diejenige Region, die besonders viel Zukunftspotenzial hat, auch weil sie in Europa ihresgleichen sucht, was die Dichte an Forschung und Entwicklung angeht. Soweit ich das beurteilen kann, haben Braunschweig 70 Jahre Niedersachsen eigentlich ganz gut getan.

„Die Landesregierung ist das eine, aber die Landesbürokratie das andere“, meint der ehemalige Ministerpräsident Gerhard Glogowski.
„Die Landesregierung ist das eine, aber die Landesbürokratie das andere“, meint der ehemalige Ministerpräsident Gerhard Glogowski. © Peter Sierigk

Gerhard Glogowski, es gibt immer mal wieder das Gefühl, dass die Region abgehängt werden könnte, dass ein niedersächsischer Zentralismus von Hannover übergriffig werden könnte.

Gerhard Glogowski (SPD), Ex-Ministerpräsident, früherer Landesinnenminister, Ex-OB von Braunschweig: Tendenziell ist das so. Wir sind bei der Lösung der Probleme, die wir im Braunschweigischen haben, gut gefahren. Aber es ist so, dass eine Landesregierung nicht Altruismus gepachtet hat, das darf ja auch nicht sein. So dass es vernünftig ist, in den Regionen die Gemeinsamkeiten zu bündeln und gegenüber einer Institution wie der Landesregierung und dem Land oder auch dem Bund gemeinsam aufzutreten. Die Landesregierung ist das eine, aber die Landesbürokratie das andere. Nehmen Sie die Geschichte mit dem Landesrechnungshof. Dass die plötzlich auf die Idee kommen, dass wir Braunschweiger gar nicht braunschweigisch kämpfen und organisieren sollten in der Stiftung Braunschweigischer Kulturbesitz (SBK). Also muss man Kräfte bündeln, aufpassen...

Herr Klingebiel, Sie haben zusammen mit Ihren Kollegen Mohrs und Markurth gezeigt, was Gemeinsamkeit vermag. Projekte wie die Weddeler Schleife, der Weiterbau der A39 und die Finanzierung des ÖPNV nehme sich heute anders aus in der Realisierungschance, als das vielleicht noch vor 18 Monaten der Fall gewesen ist. Region tut gut, oder?

„Es geht einfach um die Solidarität“, findet Salzgitters OB Frank Klingebiel (Mitte). Rechts daneben: Klaus Mohrs. Links: Jochen Luckhardt.
„Es geht einfach um die Solidarität“, findet Salzgitters OB Frank Klingebiel (Mitte). Rechts daneben: Klaus Mohrs. Links: Jochen Luckhardt. © Peter Sierigk

Klaus Mohrs (SPD), Wolfsburgs OB: Solidarität tut gut, und gemeinsam für etwas kämpfen. Die Wolfsburger haben ja mit dem Thema Braunschweiger Land so ihre Probleme. Nur Teile von Wolfsburg zählen dazu. Ich glaube eigentlich, dass das fast gar keine Rolle mehr spielt im Bewusstsein der Menschen. Sondern dass man viel eher über Wirtschaftsräume, Wissenschaftsräume, über diese heutigen Verbünde spricht. Wir drei (Oberbürgermeister, die Red.) haben gesagt, eigentlich sind wir nur erfolgreich, wenn wir versuchen, gemeinsam für diese Region etwas herauszuholen. Wenn wir gemeinsam die Dinge entwickeln, kann jeder von jedem profitieren.

Frank Klingebiel (CDU), Salzgitters OB: Es geht einfach um die Solidarität. Die persönliche Verbindung ist ja auch entstanden, weil viel über Strukturen geredet wurde. Jetzt kann man das entweder unendlich weitermachen oder man fängt mal mit einem kleinsten Nenner an. Das waren eben drei Städte, das hätten auch fünf Landräte sein können. Man fängt erstmal an und macht den Anpfiff. Was unser Ministerpräsident macht, ist sehr Braunschweig-freundlich. Das hängt dann auch mit Personen zusammen.

Herr Weil, Sie haben gerade über diesen Föderalismus innerhalb des Föderalismus gesprochen. Das erzwingt auch einen anderen Regierungsstil, oder?

Weil: Ja, der muss auf Kooperation angelegt sein, und muss bereit sein anzuerkennen, dass die unterschiedlichen Regionen unterschiedliche Themen, Stärken und Probleme haben. Natürlich ist es so, dass das Wohlergehen Braunschweigs auch für das Land seinen Wert hat. Hier ist das industrielle Herz des Landes.

Die Stiftung Braunschweigischer Kulturbesitz hat den Auftrag, braunschweigische Identität zu pflegen und zu bewahren. Der Landesrechnungshof hat eine andere Auffassung gehabt als die Stiftung. Warum, Herr Henkel, braucht die Stiftung viel Spielraum?

„Jede Zukunft braucht Herkunft“, sagt Tobias Henkel von der Stiftung Braunschweigischer Kulturbesitz. Rechts daneben: Lothar Hagebölling.
„Jede Zukunft braucht Herkunft“, sagt Tobias Henkel von der Stiftung Braunschweigischer Kulturbesitz. Rechts daneben: Lothar Hagebölling. © Peter Sierigk

Tobias Henkel, Direktor SBK: Wir schöpfen unser Selbstverständnis aus der Tatsache, dass jede Zukunft Herkunft braucht. Der Landtag hatte damals die Sorge, dass braunschweigische Interessen verloren gehen könnten. Man hat das kontrovers diskutiert und sich hinterher aber für dieses Niedersachsen entschieden.

Weil: ...sehr viel klarer als die Oldenburger...

Henkel: Als die Bezirksregierungen dann auch noch abgeschafft wurden, war es wichtig, dass es eine Institution gibt, die eine Kontinuität darstellt. Und diese Kontinuität, insbesondere bezogen auf die historischen und kulturellen Belange, das ist die Stiftung Braunschweigischer Kulturbesitz.

Glogowski: Die Selbstständigkeit der Stiftung ist nicht so, wie wir sie uns vorstellen. Die Stiftung gehört uns, und der Versuch der Reglementierung, ... dass wir keinen stellvertretenden Direktor haben dürfen, das sind alles Dinge, die wir meinen, selber regeln zu können. Dazu bedarf es einer gesetzlichen Lösung.

Herr Hagebölling, ich würde Sie gerne nach den Möglichkeiten einer Regelung fragen, die dann unmissverständlich ist.

Lothar Hagebölling, Ex-Staatskanzleichef, früherer Leiter des Bundespräsidialamtes: Hier ist die Entscheidung für Niedersachsen gefallen. Ich glaube diese Entscheidung war absolut richtig. Allerdings haben schon die Alliierten damals gesagt, und auch die niedersächsische Verfassung kennt eine Regelung aus der sich ergibt, dass die historischen und kulturellen Belange der alten Länder gewahrt werden und weiterentwickelt werden müssen. Und da gibt es eben zum Glück die SBK. Schauen wir mal in die nächste Legislaturperiode. Da kann man gucken, ob man ein solches Gesetz, das an sich schon ganz klug angelegt ist, so weiterentwickeln kann, dass allen Beteiligten klar ist, wie das gemeint ist.

Der Braunschweigische Landtag, der nach dem Zweiten Weltkrieg für nur neun Monate existiert, tagt am 21. November 1946 zum letzten Mal.
Der Braunschweigische Landtag, der nach dem Zweiten Weltkrieg für nur neun Monate existiert, tagt am 21. November 1946 zum letzten Mal. © Archiv

Herr Ministerpräsident, Sie haben sehr deutlich gesagt, wir werden keine Lösung aus Hannover über diese Region stülpen, sondern wir werden darauf vertrauen, dass es eine Lösung aus dieser Region heraus geben wird.

Weil: Das ist so. Ich komme aus der Kommunalpolitik, ich bin ein bekennender Dezentralist. Einigkeit macht eine Region mit Sicherheit stärker, und zwar nach innen und nach außen. Wenn man widersprüchliche Signale zum selben Thema aus der Landespolitik bekommt, dann bringt das die Sache nicht wirklich voran.

Wie weit sind wir denn in der Gemeinsamkeit in der Region?

Mohrs: Ich glaube, es ist viel zu früh und viel zu lange über verfasste Region gesprochen worden. Das hat eher Misstrauen geweckt. Über gemeinsame Projekte und möglicherweise gemeinsame Erfolge entsteht möglicherweise gemeinsames Bewusstsein.

Weil: Wenn ich etwas Wasser in den Wein gießen darf: Die eigentlichen Herausforderungen für das Braunschweiger Land sehe ich nicht in den großen Städten, Die sind im ländlichen Raum. Darüber wird noch zu wenig geredet.

Herr Hesselbach, Sie haben als Präsident der Braunschweiger Universität einen Standort in Wolfsburg eröffnet (die Open Hybrid Lab factory, die Red). Das war nicht ausschließlich von Beifall begleitet.

Jürgen Hesselbach, TU-Präsident: Nein. Überhaupt gar nicht. Unsere Studierenden sind international, ein Großteil der Professoren kommt gar nicht aus Niedersachsen. Unser Wettbewerb ist nicht mehr in Hannover, auch nicht in Göttingen, sondern bundesweit. In unserer wissenschaftspolitischen Strukturierung in Niedersachsen ist noch Luft nach oben. Hier muss noch mehr Zusammenarbeit stattfinden. Ich freue mich aber, dass wir eine traditionsreiche Braunschweigische Institution sind. Wir haben selbstverständlich das gemacht, was für die TU, als niedersächsischer Einrichtung, gut ist für uns, gut für Niedersachsen aber auch gut für die Region.

Weil: Worin ich eine sehr spezifische Chance sehe: Das Braunschweiger Land ist in enger Verbindung mit der Automobilindustrie. Wir stehen inmitten eines revolutionären Umbruchs der Branche. Hin nicht nur zu alternativen Antrieben, sondern auch zu einer Vernetzung des Fahrzeugs. Das heißt: Der Schwerpunkt der Automobilindustrie wird gleichzeitig auch der Schwerpunkt der IT-Entwicklung in Niedersachsen werden. Auch unter diesem Aspekt würde ich die Zukunftsperspektive für das Braunschweiger Land als gut einschätzen.

Wir haben zwei Direktoren der drei Landesmuseen am Tisch. Frau Pöppelmann, Sie haben eine Vielzahl von herausragenden Ausstellungen verantwortet, viele Facetten der Identität dieser Region …

Heike Pöppelmann, Direktorin Landesmuseum: Regionale Identität verändert sich mit den Lebensbedingungen. Wir sind vor 125 Jahren gegründet worden aus einer emotionalen Gegebenheit heraus. Alles, was gewiss war, war nicht mehr sicher. Für uns ist es wichtig, Perspektiven, Inhalte zu bieten, die sagen, wie wollen wir unsere Gesellschaft ordnen? Retrospektiv, aber zukunftsgewandt. Wir haben eine Ausstellung über den schwarzen Herzog gemacht, das war die erste Ausstellung, die vor 125 Jahren auch schon lief, Er wurde als der große Held gefeiert, und wir haben diese Rolle hinterfragt.

Herr Luckhardt, die Wiedereröffnung Ihres Hauses hat eine weltweite Resonanz gefunden. Die Menschen in der Region haben Ihr Haus förmlich gestürmt. Wo sehen Sie die Wirkung dieser großen, weltbedeutenden Kunstschätze für die Menschen, die heute in dieser Region leben?

Luckhardt, Direktor HAUM: Die Neueinrichtung und die Wiedereröffnung sind natürlich die Chance zu überlegen, welche Aufgaben dieses Museum hat. Identität findet im Kopf statt. Wir kümmern uns um die Anlässe, diese Identität zu gestalten. Materielle Überreste sind auch Kunstwerke, die besondere Bedeutung haben. Wo ist der Braunschweiger Löwe? Im Herzog-Anton-Ulrich. Erstens kommen wir auch für Braunschweig als Stadt vor, viele verbinden das damit. Dann sind wir für die Region, das Braunschweiger Land. Und natürlich sind wir auch eine Institution des Landes Niedersachsen. Es gab eine Umfrage über die kulturelle Bedeutung von Städten. Da wurde zum ersten Mal richtig festgelegt, wie viele Kulturinstitutionen im Verhältnis zur Einwohnerzahl (es gibt). Und siehe da, von den 30 größten Städten in Deutschland steht Braunschweig mittlerweile an 13. Stelle. Wir sind die Botschafter nach innen und nach außen. Wir sind doch diejenigen, die in einer Ausstellung sind im Metropolitan Museum demnächst wieder, bei Getty haben wir wieder Ausleihen, wo draufsteht: Braunschweig, Herzog-Anton-Ulrich-Museum. Und dann fragen sich die Leute: Was ist das denn?

Hesselbach: Ich sage Ihnen, was Sie sind: der Louvre des Nordens.

Zum Abschluss: Was sind Ihre Wünsche für die Region?

Mohrs: Mein Wunsch wäre natürlich, dass Volkswagen das Zugpferd bleibt für das Thema Mobilität, digitale Entwicklung, Konnektivität. Der zweite Wunsch wäre, dass möglichst wenig Eigensinn der einzelnen Gebietskörperschaften zum Tragen kommt.

Klingebiel: Ich glaube, dass diese Pflanze des Wir-Gefühls ein bisschen wächst.

Glogowski: Wolfsburg und Braunschweig sind eine Schicksalsgemeinschaft. Das zu begreifen ist viel besser, als wenn man diffus ist.

Hagebölling: Die allergrößte Stärke der Region ist ihre Integrationskraft. Man kann in dieser Region wunderbar zuhause sein.

Weil: Ich darf von Amts wegen nicht nur für mich sprechen, sondern für fast 8 Millionen Niedersächsinnen und Niedersachsen. Also: Wir Niedersachsen wünschen der Region Braunschweig mindestens genauso viel Erfolg wie in den vergangenen 70 Jahren auf der Grundlage von noch mehr Gemeinsamkeit und daraus resultierender Zuversicht in eine gute Zukunft.