Braunschweig. In eineinhalb Wochen könnte Großbritannien ein Drittel seiner Landmasse verlieren: Die Schotten stimmen über ihre Unabhängigkeit ab - Ausgang offen.

In zehn Tagen stimmen die Schotten über die Frage ab, ob Großbritannien um ein Drittel kleiner wird oder bleibt, wie es ist. In einer Sonntag veröffentlichten Umfrage lagen die Befürworter einer Loslösung vom Vereinigten Königreich mit 51 Prozent knapp vor den Gegnern, die auf 49 Prozent kamen.

Der Braunschweiger Professor Eckart Voigts erklärt, warum das Streben nach Unabhängigkeit Tradition in Schottland hat. Professor Eckart Voigts ist Geschäftsführer des Englischen Seminars an der TU Braunschweig. Er lehrt dort Literatur- und Kulturwissenschaften. Mit Dirk Breyvogel sprach er vor der Abstimmung am 18. September darüber, welche Wurzeln der Drang nach Unabhängigkeit hat.

Unser Leser Fritz Peter Mann aus Braunschweig fragt, ob das Streben der Schotten nach Unabhängigkeit auch heute noch auf die Sehnsüchte zurückzuführen, die sich aus der Historie ergeben? Oder spielen da auch ganz aktuelle Punkte eine Rolle? Beispielsweise der traditionell eher anti-europäische Kurs der britischen Regierungen.

Professor Eckart Voigts.
Professor Eckart Voigts. © privat

Die Unabhängigkeitsbewegung ist historisch verankert, da muss man nur (historisch fragwürdige) Filme wie Mel Gibsons „Braveheart“ über den schottischen Sieg über die Engländer bei Bannockburn 1314 anschauen. Vielleicht findet die Abstimmung nicht zufällig 700 Jahre nach dieser Schlacht statt. Gerne wird von den Nationalisten ein historischer Verrat am Schottentum bemüht. Als 1707 dann die „Acts of Union“ die schottische Unabhängigkeit beendeten, wurde Schottland durch ein relativ starkes politisches Gewicht im britischen Nationenverbund entschädigt. So trägt auch Premier Cameron einen schottischen Namen. Doch die entscheidenden Fragen heute betreffen die der politischen Repräsentation und, ganz wichtig, die wirtschaftlichen Vor- und Nachteile.

Daran anschließend die Frage: Sollten sich die Befürworter einer Abspaltung durchsetzen: Wie sähe der Kurs der Regierung aus? Steht Schottland dann zu den Grundwerten der EU oder vertritt sie dann praktische eine britische Position hinsichtlich der Frage: Wie viel Einfluss darf die EU haben?

Ein unabhängiges Schottland wäre sicher europafreundlicher als das Vereinigte Königreich. Eine Volksabstimmung in Rumpf-Großbritannien würde sehr wahrscheinlich den Austritt aus der EU bedeuten – viele Schotten wollen aber in der EU bleiben. Allerdings wäre umgekehrt die EU wohl wenig begeistert über ein unabhängiges Schottland, denn wenn dieses Beispiel bei „Eurominoritäten“ und „stateless nations“ wie Basken, Bretonen und Katalanen Schule macht, stünde die „Balkanisierung“ des europäischen Westens in Haus. Das kann auch angesichts der Ukraine-Krise niemand gebrauchen.

Welche Vorteile hätte aus Ihrer Sicht eine Loslösung Schottlands vom Vereinigten Königreich, wo liegen die Nachteile?

Der bisherige Vorsprung der Trennungsgegner gegenüber den Separatisten ist zuletzt erheblich geschrumpft, auch als Gegenreaktion: Es wird von den Londoner Parteien viel Druck auf die Schotten ausgeübt, denen man Grenzkontrollen androht oder Segnungen wie die Queen, das Pfund, die BBC, die Nato-Mitgliedschaft und das reich fließende Steuergeld entziehen will. Die schottischen Nationalisten, seit 1937 organisiert in der Scottish Nationalist Party (SNP), sind politisch eher linksgerichtet und keineswegs „völkisch“.

Angeführt vom Populisten Alex Salmond regieren sie seit 2011 mit absoluter Mehrheit. Die SNP behauptet, ihre Variante des Nationalismus sei friedlich, bürgerlich und nicht aggressiv. Sie beklagt, die Milliardenerlöse aus dem (schottischen) Nordseeöl – 60 Prozent der europäischen Vorkommen– kämen vor allem dem Süden zugute. Eine wichtige Frage ist die der zukünftigen Währung: Könnte Schottland das Pfund behalten oder sich der Eurozone anschließen?

Warum ist der Drang nach Unabhängigkeit in Schottland so besonders groß? Fühlt man sich nicht, ob man mit Ja oder Nein stimmt, stets als Schotte?

Das nationale Selbstbewusstsein ist im „tapferen“ Schottland, so die inoffizielle Nationalhymne „Scotland the Brave“, sehr ausgeprägt. Es kommt auch aus der Modernisierung in der schottischen Aufklärung im 18. Jahrhundert, mit Philosophen wie David Hume und Adam Smith. Tradition und Folklore werden offen gepflegt, vor allem in Kernregionen wie den Highlands, von Klans und Kilts, Whisky und Dudelsack bis zu den Balladen und dem Nationaldichter Robert Burns. Die Nationalisten spielen die Traditionskarte jedoch mit Bedacht, damit sie nicht als ewig gestrig abgetan werden. Beschädigt wurde das schottische Selbstbewusstsein vor allem von Margaret Thatcher in den 1980er Jahren, deren grob anti-schottische Politik erheblich zum Streben der Schotten nach Unabhängigkeit beigetragen hat.

Was regeln die Schotten jetzt schon selbst? Und wo endet bislang die Einflussnahme?

Schon jetzt hat Holyrood, das 1999 unter Tony Blair eröffnete schottische Parlament in Edinburgh, weitreichende Befugnisse in Sachen Soziales, Bildung und Gesundheitswesen. Auch mit Steuergeld aus London ist das schottische Sozialsystem sozialdemokratischer gestaltet als im wirtschaftsliberalen Süden der Insel, mit besserer Altersversorgung, geringeren Gesundheitskosten und ohne Studiengebühren. Allerdings fehlt die wichtige Finanzhoheit und natürlich Verteidigung und Außenpolitik. So spielen die in Schottland stationierten Tridents, die unbeliebte und teure kleine britische Atomflotte, eine recht große Rolle in der derzeitigen Diskussion.