Sorge. Früher waren auf dem Harzer Grenzweg Minen vergraben. Heute sind Urlauber auf dem alten Kolonnenweg auf sicherem Pfad unterwegs.

Die kilometerlange Schneise, die sich hinter dem kleinen Städtchen Sorge die Hänge des Harzes hinaufschiebt, bietet keinerlei Schutz. Zu beiden Seiten des etwa 200 Meter breiten Streifens ragen dichte Fichten in die Höhe, doch ­zwischen ihnen pfeift der Wind, feiner Nieselregen nimmt jeden Quadratzentimeter in Beschlag. Manfred Gille kennt das.

„Ein typischer Herbsttag im Harz“, sagt er, zieht sich den Reißverschluss seiner Outdoorjacke bis unters Kinn, rückt den Schirm der Baseball-Kappe ein wenig tiefer in die Stirn – und stapft unbeirrt weiter über den alten Kolonnenweg, dessen gelöcherte Betonplatten parallel zum Waldrand verlaufen.

Rehe lösten nachts reihenweise Minen aus

Der drahtige 75-Jährige genießt es förmlich, hier zu sein. Das war er zwar gefühlt schon immer, sein Geburtsort Hohegeiß ist auf der anderen Seite des Hügels. „Aber als ich noch ein junger Mann war, wollte hier niemand entlanglaufen“, erinnert er sich. „Viel zu gefährlich, alles voller Minen und Selbstschussanlagen.“

Ihm aber blieb nichts anderes übrig – als Zöllner, der ab 1966, der heißesten Phase des Kalten Krieges, täglich patrouillierte. Der aufpasste, dass sich niemand der streng gesicherten Grenze zum Warschauer Pakt ­näherte. Der nachts hörte, wie Rehe ­reihenweise die verbuddelten Minen auslösten, und hoffte, dass die Explosionen kein Menschenleben forderten.

Heute tragen Besucher Wanderstöcke statt Kalaschnikows

Jetzt liegen hier keine Minen mehr. Die Selbstschussanlage SM-70 kurz nach dem Beginn des heutigen Grenzmuseums Sorge ist nur Attrappe. Alte Wachtürme und Grenzzäune sind echt, dienen aber nur als Erinnerung. Und trifft er heute hier auf Menschen, sind es keine Volkspolizisten oder Sowjet­soldaten.

Besucher der Gegenwart ­tragen Wanderstöcke statt Kalasch­nikows, Trekkingschuhe statt Armeestiefel, wetterfeste Outdoorjacken statt Flecktarnuniform. Aus dem einstigen Todesstreifen wurde mit dem Harzer Grenzweg einer der bemerkenswertesten Wanderwege, die der Harz zu bieten hat.

Damals für Spionagezwecke eine enorm wichtige Gegend

Der gut 90 Kilometer lange Pfad quert seit seiner Eröffnung 2006 den Harz in Nord-Süd-Richtung von Rhoden bis nach Tettenborn, einem Stadtteil von Bad Sachsa. Wer ihn begeht, wandert durch Moore und Mischwälder, passiert Talsperren, Flüsse und Bäche. Oft folgt der Weg Trampelpfaden ehemaliger Grenzer von Ost und West. Selten ­vergeht ein Kilometer, ohne dass ­Wanderer auf ein Relikt der Teilung ­stoßen – seien es Zäune, Wachtürme, Hinweisschilder oder die Platten des Kolonnenwegs, auf dem Armeefahr­zeuge Nachschub an Menschen und Material brachten.

Die politische Situation sorgte in dieser Hinsicht für einen steten Bedarf. Große Teile des Harzes waren militärisches Sperrgebiet, zeitweise verrichteten allein auf DDR-Seite 48.000 Mann ihren Dienst – vor allem für Spionagezwecke war die Gegend enorm wichtig. „Ob Briten oder Bundesnachrichtendienst, Amerikaner oder Sowjets: Auf jedem höheren Gipfel gab es eine Abhöreinrichtung“, sagt Christoph Lampert.

Der Geschäftsführer der Brockenhaus GmbH verwaltet seit 2009 die berühmteste von allen Abhöranlagen. Noch immer befinden sich in dem mittlerweile als Museum genutzten Gebäude Relikte des großen Lauschangriffs. Die Nachkriegsgeschichte des höchsten Berges Norddeutschlands wird thematisiert, es gibt Wissenswertes zum Nationalpark Harz, in der Kuppel dreht sich alles um die Lauschangriffe des Kalten Krieges.

Auf dem Brocken sind immer zwei Ranger postiert

„Der Brocken wird geradezu mythisch verklärt“, sagt Lamprecht. Allein schon die ganzen Geschichten von Goethe oder Heine, die den Berg nach einer anstrengenden Wanderung bezwangen – und sich anschließend von der Kuppe aufgrund des typischen Wetters mit einer Nebelsuppe statt einem grandiosen Fernblick zufrieden geben mussten. „Rund 300 Tage im Jahr versinkt die Kuppe im Nebel“, weiß er. Wer eine tolle Aussicht genießen wolle, werde bei der Ranger-Station der kleinen Gemeinde Torfhaus eher bedient.

Auch auf dem Brocken sind immer zwei Ranger postiert, die sich um die Instandhaltung des Brockengartens kümmern oder Besucher über den ökologischen Fußabdruck der deutschen Teilung aufklären: das Grüne Band. Der einstige Grenzverlauf zwischen den Weltmächten zieht sich 12.500 Kilometer lang vom Eismeer Norwegens bis zum Schwarzen Meer. Ein Streifen Niemandsland, in dem sich auf dem deutschen Teilstück 29 Jahre niemand aufhalten durfte. In dieser Zeit konnte sich die Natur frei und ungestört entfalten.

Grenzweg ist ein Stück Erinnerungskultur

Der Harzer Grenzweg ist Teil davon – und der ehemalige Zöllner Manfred Gille ist dankbar, dass die nach Ende des Kalten Krieges bedeutungslos gewordene Fläche nicht neu bebaut oder bewirtschaftet wurde. Seit seiner Pensionierung vor zehn Jahren führt er Schüler auf Wanderungen über das Gelände.

Lebhaft erzählt er vom Druck und den Ängsten, die er und seine Kollegen damals empfanden. Von Minen und Wachtürmen. Von den fünf Menschen, die alleine in seinem Patrouillenabschnitt zwischen Hohegeiß und Sorge ums Leben kamen. Der Grenzweg sei ein Stück Erinnerungskultur, meint Gille: „Man darf die deutsch-deutsche Geschichte einfach nicht vergessen.“

Tipps & Informationen

Anreise Ab Berlin mit dem Pkw auf der A2 über Braunschweig bis nach Bad Harzburg. Ein ICE fährt bis Braunschweig, dort weiter mit der Regionalbahn.

Übernachtung z. B. Landhaus Dobrick, Braunlage, DZ/ F ab 90 Euro, 05520/
24 05, www.landhaus-dobrick.de

(Die Reise wurde unterstützt vom Harzer Tourismusverband.)