New York. 1989 gewann zuletzt ein deutscher Tennisspieler die US Open. Nach dem Aus von Djokovic und den Absagen von Federer und Nadal ist die Chance in diesem Jahr so groß wie lange nicht: Alexander Zverev will die Nachfolge von Boris Becker antreten. Dieser zeigt sich beeindruckt.

Alexander Zverev schimpfte und pfefferte seinen Schläger auf den Boden. Er kassierte eine Verwarnung und wenig später wegen Fluchens sogar noch einen Punktabzug.

Genau ein Jahr ist es her, dass der gebürtige Hamburger bei den US Open im Achtelfinale nach einem gewonnenen ersten Satz gegen den Argentinier Diego Schwartzman nach mehreren Wutausbrüchen doch noch scheiterte. Als der beste deutsche Tennisprofi nun in diesem Jahr im Viertelfinale gegen den Kroaten Borna Coric den ersten Satz nach einem desolaten Auftritt 1:6 verlor, als er sich bei der Stuhlschiedsrichterin über eine Fehlentscheidung beschwerte, als Coric zum gefühlt 27. Mal den Platz verließ, um seine Klamotten zu wechseln - da hätte ein Ausbruch des Zorns niemanden überrascht.

Zverev aber blieb so ruhig, als hätte er sich für diese so ungewohnten Corona-US-Open 2020 ein Schweigegelübde auferlegt. Sein Spielgerät blieb heil, und Zuschauer waren ja keine da, mit denen er sich hätte anlegen können. "Das war sehr trocken, sehr erwachsen. Es gab genügend Grund, heute mal einen Schläger zu zerhacken oder mal rumzuschreien oder mal die Schultern hängen zu lassen. Aber genau das hat er nicht gemacht", analysierte der dreimalige Wimbledonsieger Boris Becker in seiner Rolle als Experte des TV-Senders Eurosport.

Genau das ist auch einer der Gründe dafür, dass es Zverev nun als erster deutscher Tennisspieler seit eben jenem Boris Becker vor einem Vierteljahrhundert in die Riege der besten Vier in New York geschafft hat. Mit ein bisschen Krampf und sehr viel mehr Kampf als Klasse rang der 23-Jährige am Dienstag den an Nummer 27 gesetzten Coric in 3:25 Stunden mit 1:6, 7:6 (7:5), 7:6 (7:1), 6:3 nieder.

Wie schon bei den Australian Open zu Beginn des Jahres und vor der monatelangen Pause wegen der Coronavirus-Pandemie steht Zverev nun also erneut im Halbfinale eines Grand-Slam-Turniers - und ist dort am Freitag gegen den Spanier Pablo Carreño-Busta der klare Favorit. "Ich bin im Halbfinale, aber ich denke, ich kann immer noch ein paar Sachen verbessern, und das gibt mir Selbstvertrauen. Ich will hier definitiv nicht aufhören", sagte der Weltranglisten-Siebte.

Sollte er auch gegen den 29-Jährigen aus Gijon nicht aufhören, wäre Zverev der erste deutsche US-Open-Finalist seit Michael Stich 1994. Ein Jahr später hatte es Becker in das Halbfinale geschafft, bisher letzter deutscher Champion in New York war Becker 1989. Dass in diesem Jahr nach der Disqualifikation des Weltranglisten-Ersten und Topfavoriten Novak Djokovic und des Gar-nicht-erst-Antretens von Roger Federer und Rafael Nadal die Aussicht für Zverev auf seinen Premieren-Titel bei einem Grand Slam so gewaltig ist wie nie zuvor, bedeutet natürlich Chance und Druck gleichermaßen.

"Wir werden einen neuen Grand-Slam-Champion haben. Das ist das einzige, was wir sicher wissen", sagte Zverev, als er mit Mund-Nase-Schutz in die Pressekonferenz-Kameras sprach. Vor sieben Monaten hatte er in Melbourne erstmals das Halbfinale eines Grand Slams erreicht und gegen den Österreicher Dominic Thiem verloren.

Es folgten turbulente Monate mit der Unterbrechung der Saison, der mittlerweile ausgiebig debattierten Adria Tour inklusive suboptimalen Verhaltens inmitten der Corona-Krise, einer abgebrochenen Pressekonferenz beim Show-Turnier in Nizza, der Corona-Infektion seines Vaters oder der Verpflichtung von David Ferrer als Coach.

Doch anders als in der Vergangenheit seiner noch immer jungen Karriere schafft es Zverev nun, sich pünktlich zu den Höhepunkten seines Tennis-Lebens auf das Wesentliche zu konzentrieren. "Ich habe mehr Erfahrung, vielleicht bin ich in den Grand Slams auch ein bisschen ruhiger als in der Vergangenheit. Da wollte ich es oft zu sehr", sagte Zverev. Dass er gegen Coric zeitweise gruseliges Tennis spielte und das Match doch für sich entschied, ist ein Charakterzug eines Champions. Oder, wie es Boris Becker nach einer Live-Schalte mit Zverev formulierte: "Ich nenne das mal Reifeprüfung."

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